Avanti B.A.L. – Der Commandante ist zurück!
Anbei zwei Artikel aus den guten alten Zeiten, als es die Brigate Autonome Livornesi noch gab und das БРИГ (Brig) nicht nur die Kapitainsbinde des Commandante schmückte. Wie in den Bildern des Il Tirreno zum letzten Spiel gegen den CFC Genoa am vergangenen Sonntag zu sehen ist, war sie plötzlich wieder da – die Binde!
Das Stadio communale von Livorno, mitten im Arbeiterviertel der toscanischen Hafenstadt, ist kein Glamourtempel. Die kleine hässliche Betonschüssel mit Platz für 19912 Zuschauer ist mehr eine Werkstatt, eine Fabrik für Abnützungskämpfe und, wenn man die Symbolik richtig liest, für eine Revolution. Das Stadion ist die Arbeitsstätte der Associazione Sportiva Livorno Calcio, kurz AS Livorno, gegründet vor 90 Jahren.
An den Mauern prangen, hingesprayt, Hammer und Sichel. Ganz viele davon. Und Hakenkreuze, die an Galgen hängen. „Tod den Faschisten“, steht da, und: “Berlusconi ist ein Bandit“. 55 Jahre lang waren sie zweit- oder gar drittklassig. In dieser Saison sind sie wieder erstklassig, die Dunkelroten. Sportlich verläuft die Saison durchzogen wie erwartet, hinteres Drittel der Tabelle der Serie A. Aber sie machen von sich reden, die Livornesi. Jeden Sonntag, auch wenn sie verlieren.
Das hat auch mit den Fans zu tun, den hitzigen Tifosi der Nordkurve. Brigate Autonome nennen sie sich, autonome Brigaden. Sie erleben ein Fussballspiel als politisches Moment. Und sie leben ihn links, mehr noch: kommunistisch. Fällt ein Tor recken sie die Fäuste und stimmen „Bella ciao“ an, die Hymne der italienischen Widerstandskämpfer im 2. Weltkrieg.
Am liebsten sind ihnen Spiele gegen die AC Milan, den Verein von Silvio Berlusconi, und solche gegen Lazio Rom, den Klub mit der schwärzesten Anhängerschaft. Als es zu Beginn der Saison auswärts gegen Milan ging, trugen alle angereisten Tifosi aus Livorno ein Piratentuch auf dem Kopf – zur Veräppelung Berlusconis, der sich nach seiner Haartranspation mit einem Kopftuch auf Sardinien neben Tony Blair gezeigt hatte. Man spielte unentschieden, im Rückspiel gewann man gar gegen den übergrossen Gegner. Ein politischer Triumph.
Früher, zumal in den bleiernen 70er- Jahren des roten Terrors und des vom Staat gesteuerten schwarzen Gegenterrors gab es in Italien noch Fangemeinden mit linken Tendenzen. Die AS Roma zum Beispiel hatte linke Fans, die AC Milan auch. Nun ticken sie alle rechts. Die Kurven sind unterwandert von Forza Nuova, einer faschistischen Partei. In Rom rollten die „unbeugsamen Ultras“, wie sich die radikalen Fans selber bezeichnen, schon Banderolen mit antisemitischen Parolen aus. Das sorgt dann jewils für eine kurze Entrüstung in den Medien. Mehr nicht. Mit Stadionsperren für die Bannerträger ebbt die Aufregung schnell wieder ab. Zu gross sind die Interessen im Spiel, zu stark die Lobbys im Parlament für diesen und jenen Verein, als dass man das Spektakel wegen angeblicher Nebensächlichkeiten stoppte. Und man stelle sich vor: mit einem Klubchef als Premier.
Gesperrt wurden jüngst auch 250 Mitglieder der Brigate autonome, den einzigen noch übrig gebliebenen linken Tifosi in der Serie A. Livorno war schon immer links, die „röteste Stadt“ Italiens, wie man sie auch nannte. Hier gewann der Partito comunista italiano (PCI), einst die grösste kommunistische Partei im Westen, die Wahlen jewils mit „bulgarischen Prozentsätzen“, wie die Italiener sagen. Hier fand 1921 der historische Gründungskongress mit Antonio Gramsci statt. Hier schafften es die landesweit dominierenden Christdemokraten nie auf 10 Prozent.
Der Fussball, so wie ihn die Amarantroten spielen, diente immer als passende Metapher für diese unwirtliche, im Krieg fast vollständig zerbombte Industriestadt. Livorno war stets Nobody, verfemt, grau, von den Winden zerzaust.
Den Idealtypus des Livornese gibt nun ein 30-jähriger Mann von muskulöser Gestalt und grimmiger Entschlossenheit, gefeiert wie eine mythologische Figur: Christiano Lucarelli, kurz „Luca genannt, Stürmer. Lucarelli ist in „Shanghai“ geboren, einem Arbeiterquartier von Livorno. Und er ging nie weg von hier, auch nicht, als sie ihn mit viel Geld köderten. Aus Turin kam eine Offerte über eine Milliarde Lire, rund eine Million Franken. Er winkte ab, sein Herz schlage hier, in der fussballerischen Provinz, in der Schwitzbude. Sein Berater schrieb darauf ein Buch mit dem Titel „Behaltet eure Millionen“. Es wurde ein Bestseller. „Lucas“ Idol ist der Che, Ernesto Che Guevara.
Auf dem Rücken trägt er die 99 – ein Vermächtnis an die Fans. Damals 1999, entstanden die autonomen Brigaden. Als Wiege diente das Centro sociale Godzilla, ein autonomes Jugendzentrum, Treffpunkt für Globalisierungsgegner, linke Studenten und Alternative jeder Art. Im Godzilla werden die kreativen Kampagnen ausgeheckt. Einmal bastelten sie aus Karton Hunderte Fotostative und trugen sie ins Stadion. Das war an jenem Sonntag, nachdem der Premier Opfer geworden war von einem italienischen Touristen in Rom, der Berlusconi aus Wut über dessen Politik sein Stativ in den Nacken stiess. Ein Kurzschluss, für den sich Roberto Dal Bosco darauf entschuldigte. Schlimm wars nicht. Die Fans schrieben auf ihre Transparente: “ Wir sind alle auch Fotografen“. An diesem Sonntag spielt Livorno auswärts gegen die AS Roma. Im Agip Petroli Club in Livorno, dem Freizeitklub der Mitarbeiter des Erdölkonzerns, füllt sich der grosse Saal. Vierhundert Plätze, wie im Kino. Vier Euro kostet der Eintritt, die Sitze sind nummeriert, über den Grossbildschirm flimmern die Mannschaftsaufstellungen. Junge Menschen mit Rastafrisuren, ganze Familien, ältere Pärchen finden sich ein. Das Licht geht aus. Es läuft nicht gut, die Römer schiessen Tor um Tor. Drei insgesammt, Livorno keines. Zum Schluss fängt die Kamera ein Transparent der Tifosi aus Livorno ein: „Viva Stalin“ steht darauf. Im Saal schütteln sie den Kopf. Man wird wieder von Livorno reden.
Was Fußball mit Politik zu tun hat? Roberto versteht die Frage nicht: „Das kann dir Berlusconi beantworten, der hat doch mit Fußball die Wahlen gewonnen!“ Der junge Fan mit den langen Bartstoppeln und noch längeren Koteletten tritt gegen eine umgekippte Vespa. Auf seinem Rücken steht: Livorno Ultras, darunter prangt ein roter Stern mit Hammer und Sichel. Der Reißverschluss seines Kapuzenpullovers endet nicht am Hals, sondern erst kurz unter den Augen. Schützen soll das. Nicht vor dem feucht-kalten Wind, der Ende Oktober vom Meer durch die Strassen von Livorno peitscht, sondern vor den Kameras. „Wenn es nach dem Spiel Ärger gibt.“ Wahrscheinlich war die Frage am Anfang falsch gestellt.
Eigentlich müsste sie lauten: Kann Fußball überhaupt unpolitisch sein? In einem Land, in dem die Regierungspartei nach einem Stadion-Schlachtruf benannt ist? Silvio Berlusconi ist Boss von „Forza Italia“, Ministerpräsident und Alleineigentümer des „großen Milan“, wie der AC Mailand vor Ort heißt. Das gesamte Privatfernsehen gehört dem Rechtspopulisten, er bestimmt, wann die Spiele beginnen. Berlusconi-Intimus Gaetano XXX ist Geschäftsführer von Milan und nebenbei Liga-Präsident.
An seinen Verband überweist der Aufsteiger AS Livorno jede Woche einige Tausend Euro Strafe, weil die Anhänger des Vereins in Sprechchören den Regierungschef beleidigen. Die 150.000 Einwohner der Hafenstadt wähnen sich kollektiv in einem Asterix-Comic: Ein Despot in Rom kontrolliert den Sport und die Politik. Nur ein kleines toskanisches Dorf hört nicht auf, Widerstand zu leisten.
Die Toskana in Mittelitalien ist die Wiege der italienischen Arbeiterbewegung. Und Livorno ist traditionell die linkeste Stadt der Region. Die roten Fahnen gehören zur Identität der Menschen wie der schwere Punsch in den Bars am Hafen und die inzwischen stillgelegte Werft. Und natürlich die Fußballmannschaft, die in der Vereinsfarbe „amaranto“ aufläuft – dunkelrot. Held der Stadt ist Mittelstürmer Cristiano Lucarelli. Der Sohn eines Hafenarbeiters aus dem Arme-Leute-Viertel Shangai hat sich einen fünfzackigen Stern auf den Unterarm tätowieren lassen. Und in die Mitte das Wappen des AS Livorno.
„Livorno ist neben Liverpool die einzige Stadt, in der es noch proletarischen Stolz gibt“, sagt Roberto von den BAL. Das Kürzel steht für Brigate Autonome Livornesi, die Organisation der Ultras, gegen deren Mitglieder die Staatsanwaltschaft wegen der „Bildung einer kriminellen Vereinigung“ ermittelt. Über 30 Jahre war der AS Livorno in der 3. und 4. Liga gefangen. 2002 kam der Sprung in die zweite Division und zwei Jahre später endlich: Serie A! Seitdem steht am Bahnhof der Stadt: „Silvio, wir kommen!“ Im September fuhren einige tausend Fans zum Auswärtsspiel gegen den AC Mailand. Sie setzten sich in das Stadion von San Siro und banden ihre Kopftücher um. Eine Anspielung auf Berlusconi, der sich nach einer Haartransplantation im Juli im Piratenlook gezeigt hatte. Zum ersten Mal in der laufenden Saison ließ sich der Milan-Boss bei einem Heimspiel nicht blicken.
1. November 2010 um 10:46 pm Uhr
[…] Auflösungserscheinungen der 90iger Ultrà-Gruppen mit der verstärkten Repression 2004 begann. Die Brigate Autonome Livornesi (B.A.L.) zum Beispiel wurden wie die Brigate Rosse behandelt und sollten als terroristische […]