Geschichte
Livorno ist keine außergewöhnlich schöne Stadt. Relevante kulturhistorische Wurzeln sind ebenfalls nicht bekannt. Einen berühmten mittelalterlichen Altstadtkern, wie zum Beispiel im benachbarten touristisch überlaufenen Pisa, gibt es nicht. Zwischen dem Bau der Alten Festung und der Neuen lagen nur wenige Jahrzehnte. Gebraucht hat beide so wirklich keine*r. Deshalb ist die kleinere Fortezza Vecchia heute geschlossen und die Fortezza Nuova ein sich selbst überlassener Park, in dem jedes Jahr während temporärer Besetzungen autonome Kulturfestivals stattfinden.
Die Stadt ist aber oder besser ist gerade wegen seiner touristischen und historischen Irrelevanz dennoch ein besonderer Ort. Als wir das erste Mal in Livorno waren, erzählten uns Livornes*, daß die Stadt bis heute einen rebellischen Geist atmet. Livorno wurde auf Sumpfland erbaut. In den wilden Wälder der Maremma, die bis nach Livorno reichten, trieben sich Pirat*innen rum. Die erste Siedlung wurde durch Strafgefangenen erbaut. Und der antagonistische Atem dieser Ausgestoßenen bestimmt bis heute den Charakter der Livornes*.
Hinzu kommt eine unglaubliche Offenheit gegenüber vermeintlich fremden und marginalisierten Menschen. Der Hintergrund hierzu liegt in den sogenannten „Leggi livornine“ oder auch der „Constituzione Livornina“ aus dem 16. und 17. Jahrhundert, die Händlern und Zuwanderern die Möglichkeit gab sich in Livorno frei und unreglementiert ansiedeln zu dürfen. Es kamen europäische Migrant*innen, religiöse Flüchtlinge und Zuwander*innen aus dem Nahen Osten. Sie wohnten in der ganzen Stadt, bauten ihre eigenen Kulturzentren und organisierten sich institutionell in sogenannten „nazioni“. Zur größten „Nation“ wurden die sephardischen Jud*innen, die aus Spanien und Portugal geflüchtet waren. Sie mußten nicht, wie in anderen europäischen Städten, in Ghettos leben. Und so entwickelte sich in Livorno ein besonders lebendiges religiöses und kulturelles jüdisches Leben entwickeln,, das von den Nazis während der Besatzung beinah vollständig vernichtet wurde.
Im 20. Jahrhundert entwickelte sich in Livorno eine gut organisierte und kämpferische Arbeiter*innenbewegung. Es ist kein Zufall, daß am 21. Januar 1921 die Partito Comunista d’Italia in der Stadt gegründet wurde. Während der Herrschaft Mussolinis entwickelte sich die Stadt zum industriellen Zentrum. Während des II. Weltkrieges wurde Livorno deshalb nahezu vollständig zerstört. Nazis und die alliierten Streitkräfte bombardierten vor allem den Hafen und die Industrieanlagen der Stadt. In den Bergen um Livorno kämpften anarchistische und kommunistische Partisan*innen-Verbände gegen die Faschist*innen und Nazis, die bei ihrem Rückzug nach Norden eine blutige Spur der Vernichtung hinterließen.
Livorno wurde nach Ende des Krieges wieder modern aufgebaut. Alte Gebäude gibt es heute nicht mehr. Die beiden Festungen sind geschlossen. Der Park in der Fortezza Nuova verkommt und lebt lediglich zu selbstorganisierten Kultur- und Musikfestivals wieder auf. Der Hafen von Livorno ist bekannt für seine Fähren. Die alte Bedeutung als Warenumschlagplatz hat er allerdings nicht mehr. Die Stärke der kommunistischen und emanzipatorischen Bewegung sinkt seit Jahren. Sozialistische und sozialdemokratische Parteien bestimmen die Lokalpolitik. Selbst die Curva Nord verweist nach dem Ende der Ultras zusehends.
Auf der anderen Seite hat sich in der Stadt eine lebendige Gegenkultur entwickelt. Mit den bekannten besetzten Projekten Godzilla und Officina Sociale Refugio sowie weiteren alternativen Veranstaltungsorten existieren Freiräume in denen sich mensch jenseits einer kapitalistischen Verwertungslogik wohlfühlen kann. Die rebellischen Wurzeln und die Offenheit der Livornes* sind ebenfalls weiterhin lebendig. Nirgendwo in Italien werden marginalisierte Menschen und Migrant*innen so selbstverständlich als Bewohner*innen der Stadt akzeptiert und unterstützt. Hinzu kommt ein konsequenter Antifaschismus.
Diese Stadt, ihre Menschen und die Kurve sind etwas ganz besonderes. Wir empfehlen jeder*m sich davon selbst zu überzeugen und Livorno zu besuchen.