„Es gibt keine Zukunft ohne Erinnerung“

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Mit diesem Text möchten wir am 75. Jahrestag der antisemitischen  Pogrome in Deutschland an die Vernichtung der Jüd*innen erinnern. Die Aktion Stolpersteine von Gunter Demnig ist eine Möglichkeit an einzelne Schicksale und die Ermordung jüdischer Menschen zu erinnern. Auch in Livorno wurden im Januar „Pietre di inciampo“ verlegt. Dieser Text erzählt darüber.

Ich glaube, jede*r von uns kennt die in den Boden eingelassenen bronzenen Pflastersteine. Auf ihnen sind ein Name und biographische Daten eingraviert. Die sogenannten Stolpersteine erinnern an Opfer der nationalsozialistischen Vernichtungspolitik. Der Künstler Gunter Demnig begann das Projekt und verlegt sie immer noch höchstpersönlich. Selbst wenn er dafür wie zuletzt nach Russland, Frankreich, in die Schweiz oder eben nach Italien fahren muß. Dort war er im Januar diesen Jahres und setzte Stolpersteine in Ravenna, Rom, Prato sowie in Livorno. Anfang Oktober schrieb er uns, daß er gerade zu Hause ist und im Januar nächsten Jahres wieder in Italien sein wird.

Als ich von der Verlegung in Livorno las, war ich zunächst überrascht. So richtig verwundert hat es mich dann aber doch nicht. Es paßt eigentlich. Denn wie ich und ihr seit der zweiten Ausgabe des Diario wißt, war und ist die Stadt wichtig für die Entwicklung des jüdischen Italiens. Und offenbar in Sachen Erinnerungskultur an die Shoa ebenfalls weit vorn. Die Stolpersteine wurden am Donnerstag, den 17. Januar 2013, von Gunter Demnig im Rahmen der Erinnerung an die Vernichtung der Jüd*innen in Livorno in der Innenstadt verlegt. Die Initiative ging von der Jüdischen Gemeinde von Livorno und der Kirchengemeinde Sant’Egidio aus. An der Finanzierung und Organisation beteiligten sich außerdem die Kommune, die Diözese der Provinz Livorno, das Centro Documentazione Movimento Ecumenico Italiano (cedomei) sowie das Instituto Storico della Resistenza della Società Contemporanea (Istoreco). Die Entscheidung für die Stolpersteine war eine bewußte. Denn die Augenzeug*innen der Deportationen und der Vernichtung der jüdischen Einwohner*innen von Livorno sterben. Ihre Stimmen verstummen – deshalb sollen nun die Steine von dem Schicksal der Opfer erzählen. Übrigens, die Idee die Stolpersteine in Livorno zu verlegen und so an die deportierten jüdischen Livornes* zu erinnern, kam den Organisator*innen in Berlin. Sie waren beeindruckt von den hunderten bronzenen und in der Sonne leuchtenden Steinen, die an Berliner Jüd*innen erinnerten und an ihre Synagogen. Da das Gedenken an die jüdische Bevölkerung in Livorno bisher keinen öffentlichen Ort hatte, dachten sie sich, so die Erinnerung sichtbar zu machen.

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Der 17. Januar stand deshalb ganz im Zeichen des Gedenkens. Bereits am Vormittag verlegte Gunter Demnig Stolpersteine in Erinnerung an die beiden Kinder Franca Baruch (via Fiume 2, am Palazzo Grande) und Perla Beniacar (via Casuto 1, unweit der Synagoge) sowie an Raffaelo Menasci und seinen Sohn Enrico (via Verdi, unweit des englischen Friedhofs), die beide am 16. Oktober 1943 aus Rom deportiert wurden. Darüber hinaus gedachte die Stadt mit einem „Marsch der Erinnerung“ an die Deportation und Ermordung jüdischer Livornes*. Um 16 Uhr begann eine Kundgebung vor dem Rathaus auf der Piazza Municipio nahe der Piazza Grande. Hinter dem Banner mit der Aufschrift „Non c’è futuro senza memoria“ (Es gibt keine Zukunft ohne Erinnerung) zogen 400 Menschen mit Schildern, auf denen an die Konzentrations- und Vernichtungslager Birkenau, Majdanek, Buchenwald, Sachsenhausen, Bergen-Belsen, Belzec, Sobibòr und Theresienstadt erinnert wurde, durch das Stadtzentrum. An jedem Stolperstein wurde eine Zwischenkundgebung abgehalten, die Anwesenden über die Geschichte der Ermordeten informiert und eine Rose niedergelegt. Die Abschlußkundgebung fand unmittelbar am Eingang zur Synagoge statt.

Die Deportation und Ermordung der jüdischen Bevölkerung aus Italien in die Konzentrations- und Vernichtungslager in Osteuropa begann nach dem Waffenstillstand zwischen den italienischen Streitkräften und den Alliierten im sizilianischen Cassibile am 3. September 1943, der am 8. September bekannt gemacht wurde. Die Nazis besetzten Italien nun und führten ihre Vernichtungspolitik fort, was zum Einen die Ermordung der europäischen Jüd*innen sowie die Fortsetzung der grausamen Massaker an der italienischen Zivilbevölkerung und die Verschleppung junger Italiener*innen in die Zwangsarbeit bedeutete. Die italienischen Faschist*innen standen ihnen, wie schon zuvor, bereitwillig zur Seite oder sie übernahmen ganz die „Arbeit“ der Nazis. So wurden, bis auf einige Ausnahmen, die Verhaftungen und Deportationen der jüdischen Einwohner*innen von Livorno von Faschist*innen übernommen. Sie stützten sich hierbei auf ausführliche Listen mit genauen Bezeichnungen der Wohnorte von Jüd*innen in der Stadt, welche die italienische Polizei nach der Volkszählung 1938 angefertigt hatte. Die Deportierten wohnten zumeist in der Altstadt rund um die Synagoge. Zur älteren jüdischen Bevölkerung kamen aus Griechenland verschleppte Jüd*innen hinzu. Nach den alliierten Bombenangriffen im Mai und Juni 1943 flüchteten viele in die Dörfer der Region, wie zum Beispiel nach Gabbro und Guasticce, oder in die Berge rund um Pistoia.

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Der erste Halt des „Marsches der Erinnerung“ war in der via Fiume 2, nur wenige Schritte vom Rathaus. An dieser Stelle erinnert ein Stolperstein an Franca Baruch. Sie wurde am 19. März 1943 geboren und am 26. Februar 1944 in Auschwitz ermordet. Ihre Mutter flüchtete wahrscheinlich im Juni aus Gabbro nach Livorno. Mutter und Tochter wurden am 20. Dezember 1943 in einer Kommandoaktion auf Initiative des örtlichen Polizeichefs verhaftet und deportiert. Am 26. Februar kamen sie zusammen mit Primo Levi in Auschwitz an. Der bekannte italienische Schriftsteller überlebte – Franca und ihre Mutter wurden zusammen mit 526 Menschen in den Tod selektiert. Sie wurde nicht einmal ein Jahr alt.

Zur zweiten Station, dem Largo dei Valdesi, ging es über die Piazza Grande und die via Cairoli über die Piazza Cavour in die via Verdi. Dort erinnerten Vertreter*innen verschiedener protestantischer Kirchen sowie der rumänisch-orthodoxen Kirche an die Shoa und die Verantwortung der Überlebenden. Danach zogen die Menschen weiter in die via Verdi an die Stelle, wo die Stolpersteine für Raffaelo und Enrico Menasci eingelassen wurden. Raffaelo wurde am 11. Februar 1896 geboren. Er war ein angesehener Professor an der medizinischen Fakultät der Universität in Pisa und verlor im Zuge der Verschärfung der Rassengesetze durch die Faschist*innen dennoch seinen Lehrstuhl. Sein Sohn Enrico wurde am 27. März 1931 geboren. Trotz der zunehmenden antisemitischen Repressionen blieb er in Livorno. Erst am 28. Mai 1943 verließ die Familie die Stadt nach heftigen alliierten Bombenangriffen und flüchtete nach Rom zu Verwandten. Dort wurden beide im Rahmen einer Razzia unter der jüdischen Bevölkerung zusammen mit 1.022 Menschen am 16. Oktober 1943 verhaftet. Die Haushälterin der Familie wollte Enrico schützen und gab ihn als ihren Sohn aus. Der Zwölfjährige riss sich aber, nachdem er zunächst vom Vater getrennt und so gerettet werden konnte, völlig verzweifelt los und rannte in dessen Arme. So wurden beide in den Tod deportiert. Raffaelo Menasci starb 1944 in Warschau. Sein Sohn Enrico wurde am 6. Februar 1944 in Auschwitz ermordet.

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Als nächstes zog der „Marsch der Erinnerung“ in die via Casuto 1, gleich neben der Synagoge. Dort erinnert ein Stolperstein anPerla Beniacar. Sie wurde am 19. Juni 1935 in Livorno geboren. Ihre Eltern kamen aus Smyrna (heute Izmir) in der Türkei. Sie waren vor Verfolgungen (wahrscheinlich nach der griechischen Invasion 1919) geflohen und fanden in Livorno Unterschlupf. Die ganze Familie wurde am 25. Januar 1944 in Borgo a Buggiano, ein Bergdorf in der Nähe von Pistoia, verhaftet und nach Auschwitz deportiert. Perla, die Eltern, ihre Brüder Bulissa (16) und Giacomo (11) sowie die ältere Schwester Matilde waren im selben Transport wie die kleine Franca Baruch und Primo Levi. Letzterer beschreibt in seinen Erinnerungen, daß in seinem Waggon, in dem sich circa 45 Menschen befanden, auch ein Säugling – Franca – und ein junges Kind – wahrscheinlich die neunjährige Perla – nach Auschwitz deportiert wurden. Matilde war die einzige aus der Familie Beniacar, die überlebte. Sie erinnert sich noch immer daran, wie hübsch und klug ihre jüngere Schwester war. „Sie ging so gern zur Schule“, erzählt sie an diesem Tag. „Ich erinnere mich, daß wir, als wir im Lager ankamen, getrennt wurden. Perla und Giacomo wollte ich nicht allein lassen. Ich lief zu ihnen zurück. Ich wollte sie nicht alleine leiden lassen. Aber wir wurden getrennt und das war das letzte Mal, daß ich sie gesehen habe.“

Die letzte Station am Eingang zur Synagoge bildete gleichzeitig die Abschlußkundgebung. Dort sprachen Yar Didi, der Rabbi der jüdischen Gemeinde, der Bischof Simone Giusti, die Vorsitzende der Gemeinde von Sant’Egidio, Anna Ajello, und der Vorsitzende der jüdischen Gemeinde von Livorno, Vittorio Mosseri. Ajello betonte, daß die jüdischen Livornes* immer zur Stadt gehörten. „Von heute an werden sie immer in Erinnerung bleiben. Das Gedenken wird ein alltägliches sein, die Steine Anlaufpunkt, um einen menschlichen Gedanken zu fassen und dann den nächsten Schritt zu machen: das persönliche und gemeinsame Engagement für eine Zukunft aller und der Stadt.“ Und bevor zum Abschluß der Veranstaltung sechs Arme der Chanukkia in Gedenken an die sechs Millionen ermordeten Jüd*innen entzündet wurden, sprach Mosseri die letzten Worte: „Diese Steine sind für uns so wertvoll, weil sie an viele erinnern, die nicht mehr sind. Sie sind die Grundlage der lebendigen Erinnerung einer*s jeden.“

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