Ya running and ya running…

matisyahu-31-08-2015

Ich mag Ska. Und ich mag Reggae. Vor allem Roots Reggae. Der ist schön chillig und lullt dich ein. Auf der anderen Seite scheint es die rebellischste Spielart im Offbeat-Genre zu sein. Aber dennoch ist es nicht gerade die progressivste. Denn mit dem religiösen Erweckungs- beziehungsweise Erlösungsfetisch kann Roots-Reggae auch sehr leicht für Polit-Sekten aller Art zu einer beliebten Projektionsfläche werden. Ich mag Roots Reggae trotzdem. Trotz der religiösen Bezüge. Oder vielleicht sogar deswegen. Keine Ahnung woran das liegt. Vielleicht an der messianisch kommunistischen Erziehung in der DDR, die ständig von einer eutopisch, von jeder Diskriminierung und Unterdrückung befreiten Gesellschaft phantasierte. Vielleicht aber auch nur, weil die Geschichten der Bibel mit Sex, Gewalt, Versöhnung und Familie alles bot, was spannend und aufregend ist. Wer weiß.

Eine*rmeiner Lieblingsreggaekünstler*innen vereint all diese Aspekte. Also guten Sound, rebellisch religiöse Lyrics sowie einen besonders ausgeprägten Hang zur Versöhnung und Harmonisierung der Welt. Hinzu kommt eine Hammer-Bühnenshow und oftmals hymnische Rock-Elemente. Wat’ne Mischung, wa. Der* Künstler* performt im Übrigen als Matisyahu, was hebräisch ist und Geschenk Gottes bedeutet. Eigentlich heißt er Matthew Paul Miller. Er kommt aus Pennsylvania und wuchs in einem streng-religiösem jüdischen Elternhaus auf. Reggae, HipHop und Beat-Boxing war für ihn offenbar eine Möglichkeit auszubrechen, was ihn aber nicht davon abhielt Teil der chassidischen Sekte der Lubavicher zu werden. Die Musik blieb allerdings. Aus MC Truth wurde Matisyahu, der mit Kippa, Gebetshemd, Bart und Schläfenlocken, mit liturgischen, religiösen und zum Teil jiddischen Texten durch die Gemeinden und die Länder tourte. Sein Durchbruch gelang mit der Single „King without a crown“, ein Liebeslied an Gott, von der Platte „Youth“ (2006). Mit dem titelgebenden Track zeigte er aber auch, dass er ordentlich rocken konnte und mit den Versen „Young man, the power’s in your hand, slam your fist on the table and make your demand“ nicht die Roots-Regel zur Befreiung der Welt vergessen hatte. Und auf „Light“ (2009) legt er nochmal mit „One day“ nach und träumt davon, dass eines Tages „we don’t wanna fight no more, they’ll be no more wars and our children will play“. Und verlangt: „Stop with the violence. Down with the hate.“ Was für ein Traum!

Aber, all die musikalischen Gebete und messianischen Träume von Friede, Freude, Paradies halfen nicht, dass der bis 2011 offensiv als orthodoxer Jude* auftretende Künstler* in diesem Jahr antisemitisch angegangen wurde. Die spanische Filiale der weltweit agierenden Anti-Imp Politsekte Boycott, Divestment and Sanctions (BDS) setzte die Organisator*inne des Rototom Sunsplash unter Druck und verlangte, dass Matisyahu als einziger eingeladene*r Künstler*in eine Erklärung Pro-Palästina und Anti-Israel unterschreiben sollte. Begründet wurde dies mit Matisyahus vermeintlicher Nähe zu amerikanischen Pro-Israelischen Organisationen und seine Kritik an der Berichterstattung zum Stoppen der Mavi Marmara durch die Israelische Armee, die als Teil der von islamischen Fundamentalist*innen organisierten Gaza Freedom Flottille die unmenschliche Abriegelung des Gaza Streifens durchbrechen wollte. Er hat diese Erklärung nicht unterschrieben. Warum sollte er auch. Dieser Vorgang zeigt aber erschreckend beeindruckend, was Doppelter Standard bedeutet, und das Jüd*innen immer besser sein müssen als andere Menschen – egal ob sie nun Aktivist*innen oder Künstler*innen sind.

Dieser Eklat ist nicht nur wegen der antisemitischen Grundhaltung der BDS Sekte interessant, sondern auch weil er auf ein grundsätzliches Dilemma hinweist. Und es vermischen sich auch hier der quasi-religiös Märtyrermythos, Diskriminierung und Befreiung. Es stehen sich Israel und Palästina gegenüber. Und alle sollen und müssen sich offenbar dazu verhalten. Die israelische Staatsgründung, die als direkte Konsequenz aus der Katastrophe des Industriellen Massenmords notwendig war, bedeutet für viele Palästinenser*innen die Katastrophe der Vertreibung. In der Shoa sind die Jüd*innen die Opfer. Die Nakba und darauffolgend die Okkupation und Entrechtung in den besetzten Gebieten macht die Palästiner*innen zu Opfern des Staates Israel. Das heißt, während durch die Staatswerdung Israels eine Schutzmacht für alle Jüd*innen der Welt entstand und sie so vom Opfermythos erlöst werden, ist diese Befreiung für die Palästinenser*innen die Katastrophe, die erst in der Intifada die kollektive Emanzipation ansatzweise erleben. Der religiöse Aspekt dieses historisch politischen Dilemmas wird vollkommen sichtbar, wenn sich mensch die uneingeschränkt solidarischen Unterstützer*innen der entsprechenden Seite anschaut. Denn, was für antideutsche Israelfreund*innen anti-arabischer Rassismus ist, findet seine Entsprechung bei anti-imperialistischen Palästina-Freund*innen im Hang zum Verständnis für islamistische Fundamentalist*innen, die unter anderem die gesellschaftliche Entrechtung von Frauen* und die Auflösung des Individuums zu Gunsten eines religiös fundamentalistischen Zwangssystems anstreben. Aber das ist eine ganz andere Geschichte…

Kommen wir zurück zu Matisyahu. Der war nämlich am 31. August 2015 in Berlin. Eingeladen von der Heinrich Böll Stiftung zum Jewish Cultural Day 2015. Und zwar als Höhepunkt im „Dreiklang aus Vortrag, Gespräch und Konzert“, quasi als Zentrum der Dreieinigkeit der Panels. Und zwar nicht als christlichen Heiligen Geist, sondern als jüdischen Musikliturgen*. Und er hat nicht enttäuscht.

Er kam nur mit seinem Gitarristen* und seiner Stimme zu einer Acoustic Session. Vorher erzählte der witzige David Solomon aus Melbourne über die Propheten und ihre Einführung der Zukunft in den gesellschaftlich religiösen Diskurs. Sie kreierten, so meint zumindest die quirlige Australier*, die emanzipatorisch messianische Idee von einer besseren Welt im morgen. Und er spekulierte gleich mal, dass die Propheten den Nahost-Konflikt durch exzessive Liebes- und Friedenspolitik gelöst hätten. Nämlich durch die Entmilitarisierung von Jerusalem. Die Umsiedlung der UNO nach Jerusalem. Das Verbot jeglicher Waffen in der Heiligen Stadt. Sowie den Aufbau einer Friedensindustrie, die ausgehend aus Israel Respekt, Anti-Militarisierung, Liebe, Harmonie und Frieden in die ganze Welt exportieren würde. Danach gab es ein langweiliges Gespräch über Judentum, Berlin, Flüchtlinge, Rassismus und Antisemitismus. Und ab 21 Uhr ging das Konzert los.

Es fand im Großen Saal der Böll Stiftung statt. Ich würde sagen circa 400 waren im Saal. Draußen, auf den Treppen vor dem Saal, saßen vielleicht nochmal 100 bis 150 Leute, die das Konzert auf einer Leinwand verfolgen konnten… Auf diesen Moment, endlich mal Matisyahu zu sehen, hab ich mich schon ewig gefreut. Und jetzt sollte ich im Sitzen zu hören.. Dann trat ER* auf. Ohne Schläfenlocken, Kippa, Gebetshemd und sonst welche religiösen Symbole. Er* hatte Hipsterröhrenjeans an und sah ziemlich fertig aus. Sein* Gitarrist* war etwas besser drauf und gab schonmal die psychedelische Richtung vor. Matisyahu brauchte einige Tracks bis er warm war. Aber dann legte er so richtig mit dem Beatboxen los. Aus seinen Tracks, wie „Jerusalem“, „King without a crown“, „One day“ oder den Bob Marley Covern „Crazy Baldheads“, „Running away“ oder „No woman no cry“, machte er hypnotisch meditative Klangkunstwerke, in denen Minimal-Techno, Electro und Reggae ineinander verwoben wurden. Echt Hammer! Es war also tatsächlich nicht nur ein Konzert, sondern wirkte wie eine Roots-Liturgie, in der Versenkung, Erweckung und Erlösung möglich war. Für alle – unabhänig von der Religion oder Sexualität oder anderer vermeintlich trennender Kategorien. Vielleicht ist es das, warum ich Reggae so mag. Vor allem Roots-Reggae…

Zuerst veröffentlicht im Ultra Unfug #218.

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