Keine*r ist vergessen!

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Im November 2005, vor zehn Jahren, begann eine Mordserie, bei der im Laufe mehrerer Jahre in Russland über ein Dutzend Antifaschist*innen, soziale Aktivist*innen, Punks, Skater*innen und ganz einfache Menschen von Nazis gezielt getötet wurden. Sie wurden auf dem Weg zum Konzert überfallen und verprügelt. Ihnen wurde zu Hause aufgelauert, um sie zu erschießen. Wir möchten an diese Menschen und mit ihnen an die zahlreichen anderen Opfer von Nazi-Gewalt erinnern sowie ihre Geschichten erzählen.

Timur Kacharev [Filmstreifen unten, der 2. von links] wurde am 13. November 2015 von Nazis in Sankt Petersburg ermordet. Er war nach einer Food-not-Bombs Aktion, bei der veganes Essen an Obdachlose verteilt wird, mit einem Freund auf dem Weg nach Hause, als er von circa zehn Nazis überfallen wurde. Timur starb an seinen schweren Messerstichen am Hals. Er war zu diesem Zeitpunkt 20 Jahre alt und studierte im vierten Semester an der Philosophischen Fakultät. Er war Musiker, Veganer und Aktivist. Timur war der erste russische Antifaschist, der von einem Nazi-Mob getötet wurde. Vor wenigen Tagen jährte sich sein Todestag zum zehnten Mal.

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Ungefähr ein halbes Jahr später, am 16. April 2006, wurde in Moskau Sascha Rjukhin [oben, der 1. von links] und ein Freund von mindestens fünf Nazis überfallen. Sie waren auf dem Weg zu einem Punk- / Hardcore-Konzert. Die Angreifer gehörten zur Nazi-Skin-Gruppe Vereinigte Brigaden 88 (Ob’edenennye Brigady 88, OB-88), die später in der Nazi-Terrorzelle Kampforganisation Russischer Nationalisten (Boevaja Organizacija Russkikh Nacionalistov, BORN) aufging. Diese Gruppe verübte elf Anschläge und tötete mindestens 12 Menschen, unter ihnen sechs prominente Anitfaschist*innen. Sascha und sein Begleiter könnten das Opfer einer tragischen Verwechslung gewesen sein. Denn er sah einem bekannten Antifaschisten offenbar sehr ähnlich. Sascha starb an einem Stich ins Herz. Er war kein besonders aktiver Antifaschist. Sein Tod war für seine außerhalb von Moskau allein lebende Mutter eine Tragödie. Sein Mörder war Aleksandr Parinov. Er ist offenbar in der Ukraine untergetaucht und kämpft auf Seiten der ukrainischen Nationalisten im faschistischen Regiment Azov.

Am 27. März 2007 überfielen mehrere Dutzend Nazis mit Flaschen, Latten und Messern bewaffnet in Izhevsk, der Hauptstadt der Republik Udmurtien, eine Gruppe junger Skater*innen. Die Opfer konnten zunächst fliehen, wurden dann aber eingeholt. Sieben Nazis prügelten, traten und stachen vor allem auf Stas Korepanov [unten, der 3. von links] ein. Er hatte zahlreiche Stichwunden und Prellungen am Kopf, als er ins Krankenhaus eingeliefert wurde. In der Nacht zum 31. März 2007 starb er an seinen schweren Verletzungen, ohne dass er das Bewusstsein wieder erlangte. Stas war Skater, Rapper und Antifaschist. Er wurde 17 Jahre alt.

Im Sommer desselben Jahres fand in Angarsk ein Camp von Öko-Aktivist*innen, Anarchist*innen und Antifaschist*innen gegen ein Kombinat statt, das zum Energieunternehmen RosAtom gehört und Uran zur Verwendung in Atomkraftwerken anreichert. In der Nacht vom 21. Juli 2007 überfielen Nazis das Lager. Sie zündeten die Zelte der Schlafenden an und verprügelten die Öko-Aktivist*innen. Viele wurden verletzt. Eine Person wurde getötet. Il’ja Borodaenko [oben, der 6. von links] aus der Stadt Nachodka, aus der Region Primorje an der Grenze zu China, ganz im Osten der Russischen Föderation, starb mit 26 Jahren.

Am Abend des 20. Oktober 2007 töteten Nazis in Moskau Ovanes Ajrumjan. Er war Student an der Musikakademie, spielte Geige und war Schlagzeuger in der Punk-Band Toxic Trace. Die Nazis lauerten ihm vor seinem Haus auf, überfielen und töteten ihn mit dreißig Messerstichen. Später bekannten sie sich zum Überfall und dem Mord. Ovanes wurde nur 23 Jahre alt.

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Aleksey Krylov [oben, der 2. von links], ein Punk aus Noginsk, einer Kleinstadt in der Nähe von Moskau, wurde am 16. März 2008 in Moskau getötet. Eine Gruppe von circa zwanzig Nazis überfiel einige Punks, die sich auf dem Weg zu einem Konzert befanden. Einige konnten flüchten. Lediglich Aleksey und eine Begleiterin schafften es nicht. Die Nazis stachen auf ihre Opfer ein. Aleksey erlitt 34 Messerstiche und starb noch am Ort des Überfalls. Seine Begleiterin überlebte lediglich, weil sie sich mit ihrem Rucksack vor den Stichen schützen konnte. Aleksey starb mit 21 Jahren.

Fjodor Fedjay Filatov [oben, der 5. von links] starb am 10. Oktober 2008 im Krankenhaus. Er war gerade einmal 27 Jahre alt. Nur wenige Monate vorher stand er noch zusammen mit Vanja Khutorskoj in der Nordkurve Babelsberg. Fedjay wurde morgens von Nazis vor seinem Haus aufgelauert. Unter ihnen waren Nikita Tikhonov, der auf ihn einprügelte, gegen den sich Fedjay aber noch wehren konnte, und Mikhail Volkov, der auf ihn einstach. Dies war der zweite Mord von BORN. Fedjay war einer der Gründer der antirassistischen Moscow Trojan Skinheads. Deshalb wollten die militanten Nazis ihn töten. Er starb im Krankenhaus aufgrund der zahlreichen, schweren Stichwunden, ohne dass er wieder zu Bewusstsein kam.

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Wenige Monate später töteten Nikita Tikhonov und Evgenija Khasis, beide Mitglieder von BORN, Nastja Baburova [oben, die 3. von links] und Stas Markelov [unten, der 5. von links]. Sie wurden am 19. Januar 2009 nur wenige hundert Meter vom Kreml entfernt erschossen. Nastja war 25 Jahre alt. Sie arbeitete für die Zeitung „Novaja Gazeta“. Sie schrieb zuletzt über russische Antifaschist*innen und die Gewalt russischer Nationalist*innen. Des Weiteren engagierte sie sich in anarcholibertären und ökologischen Gruppen. Stas war 34 Jahre alt, als er getötet wurde. Für besondere Aufmerksamkeit sorgte er immer wieder durch seine hartnäckige Vertretung von Opfern aus Tschetschenien. Außerdem verteidigte er engagierte Antifaschist*innen und andere Aktivist*innen. Stas lud am 19. Januar zu einer Pressekonferenz in das Unabhängige Presse-Zentrum ein. Er wollte über die bevorstehende, erschlichene vorzeitige Freilassung des wegen Vergewaltigung und Mordes an einem jungen tschetschenischen Mädchen verurteilten Oberst Jurij Budanov informieren und die Wiederaufnahme seiner Bemühungen um eine Fortsetzung der Haft ankündigen. Nastja war als Journalistin im Auftrag der Zeitung „Novaja Gazeta“ vor Ort. Sie arbeitete an einem Artikel über die gefährliche Arbeit von Markelov und führte ein Interview mit ihm. Es erschien wenige Tage nach dem Tod der beiden gleichsam als Erinnerung an die Ermordeten.

Noch im selben Jahr töteten die BORN-Mitglieder Jurij Tikhomirov und Maksim Baklagin den Antifaschisten und antirassistischen Fußballfan Il’ja Dzhaparidze [unten, der 6. von links]. Sie überfielen ihn am 27. Juni 2009. Tikhomirov schoss mit einer Schreckschusspistole vier Mal auf den Kopf. Baklagin stach mindestens 26 mal zu. Der schwerverletzte Il’ja starb im Krankenhaus noch am selben Tag. Er war in erster Linie Fußballfan. Aber er organisierte auch Konzerte und war mehrfach in Berlin bei antifaschistischen Festivals.

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Nur wenige Monate später, ungefähr ein Jahr nachdem Fedjay getötet wurde, erschoss das BORN-Mitglied Aleksey Korshunov Ivan Khutorskoj [unten, der 1. von links]. Vanja war einer der bekanntesten Antifaschisten in Moskau und Mitbegründer der Red & Anarchist Skinheads (RASH) in Russland. Er organisierte Konzerte und Kampfsportevents für Antifaschist*innen. Er war, wie auch Stas Markelov, eine sowohl spektren- als auch subkulturellübergreifende Respektsperson. Deshalb wollte BORN ihn töten. Korshunov sowie seine Komplizen Maksim Baklagin und Vjacheslav Isaev warteten am 16. November 2009 im Hausflur auf Vanja. Sein Mörder trat von hinten an ihn heran, als er die Post sortierte, und schoss ihm in den Nacken. Vanja fiel und Korshunov schoss erneut auf ihn, offenbar um sicher zu gehen, dass er ihn auch tatsächlich getötet hatte.

Am 22. Mai 2010 überfielen 30-40 Nazis eine Geburtstagsfeier am Ufer der Moskva in Strogino, einem Randbezirk von Moskau, mit Flaschen, Steinen, Messern und Schreckschusspistolen, weil sie die Feiernden für Antifaschist*innen hielten. Offenbar schienen sich die Nazis durch die Tattoos der Feiernden und ihr subkulturelles Auftreten provoziert zu fühlen. Die 15 Anwesenden waren gerade dabei den Müll aufzusammeln und nach Hause aufzubrechen, als sie angegriffen wurden. Viele konnten fliehen. Dmitrij Kashizyn [oben, der 4. von links] dagegen erlitt 15 Stichwunden und starb. Er wurde nur 28 Jahre alt.

Kostja Lukin, Aktivist, Antifaschist und Sprayer, starb am 31. Mai 2010. Er wurde von Nazis acht Tage vorher überfallen und fiel ins Koma. Über ihn ist, bis auf dass er ein Graffito in Erinnerung an Vanja gemalt hat, leider nur wenig bekannt.

Zwei Jahre später, am Morgen des 9. Februar 2012, wurde in Samara der Antifaschist und Anarchist Nikita Kalin [unten, der 4. von links] von einer Gruppe Nazis getötet. Er war auf dem Weg zur Arbeit, als er überfallen und ermordet wurde. Nikita hatte zahlreiche Rippenbrüche und Kopfverletzungen sowie 61 Messerstiche. Er wurde nur 20 Jahre alt.

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Dies sind nur einige Opfer nazistischer Gewalt. Wir möchten Sie hervorheben und speziell an sie erinnern, weil sie für die antifaschistische beziehungsweise die soziale Bewegung in Russland wichtig waren. Es gab vor allem bis 2011, als BORN endgültig aufflog, viele militante Nazi-Gruppen. Ihre Opfer waren und sind nicht nur Antifaschist*innen, sondern vor allem auch Migrant*innen, queere Menschen, Punks sowie Vertreter*innen anderer subkultureller und sozialer Bewegungen. Die Nazi-Terroristen von BORN zum Beispiel verübten insgesamt elf Anschläge, bei denen zwölf Menschen ermordet wurden. Nach den Morden geriet die russische Antifa-Bewegung in eine schwere Krise. Viele Aktivist*innen gingen ins Ausland. Diejenigen, die zu Hause blieben, bekamen es mit der Staatsmacht zu tun. Andere zogen sich zurück. Spätestens der Konflikt im Donbass gab der Bewegung den Rest. Was bleibt, sind einige überzeugte Antifaschist*innen und eine kleine antifaschistische Subkultur. Unsere Solidarität gilt deshalb den Freund*innen und Genoss*innen in Russland, die trotz der Schwierigkeiten weitermachen.

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