Wat’n Theater XXXVII – Existenz und Ekstase
Zweiter Spieltag, ich sitze zu Hause und hab mal wieder alles verpaßt. Wirklich ärgerlich. Sowas muß nu wirklich nich sein. Da stehste früh auf. Schleppst dich ins Bad. Machst dir nen leckeren Café. Mit schöner Creme und nen sanften Karamell-Geschmack durch den Zucker. Hmmm…. Grandios… Also, du versuchst dir das Aufstehn zu versüßen und mußt dann doch zur Arbeit. Nix Bus. Keine Tour zusammen mit Freund*innen. Nur schnöde Lohnarbeit. Und dann noch so früh! Wirklich ärgerlich.
Vorhin, als ich mich völlig übermüdet und ziemlich hinüber selbst bemitleidet hab, is mir eingefallen, dass früher, lange vor Championsleague, Social Media, Internet, Red Bull, Blatter, Adi Dassler usw. der Spieltag ziemlich gut geplant war. Samstags spielte die erste Liga. Am Sonntag spielten alle Teams der 2. Bundesliga. Die unteren Ligen spielten, soweit ich mich recht erinnere, auch am Sonntag. Und jahrelang wurde an diesem Dogma festgehalten. Damit war die ärgerliche Terminierungsfarce vor allem in den unteren Ligen kein Thema. Denn wann, wer spielte, war klar. Es fehlte nur das gegnerische Team. Aber das is lange her. Heute hat der Spieltag mindestens vier Tage. Freitag Abend geht’s los. Und Schluß is Montag.
Ich erzähl euch nix neues. Und ihr habt bestimmt auch schonmal ein Spiel verpaßt. Wegen Arbeit, Uni oder Schule. Und es nervt mächtig. Nur dummerweise läßt sich für das lästige Terminierungsproblem gar nicht so einfach ein*e Schuldige*r finden. Viel zu einfach wäre es, den Verbänden die Verantwortung in die Schuhe zu schieben. Selbst die DFL reagiert nur. Und auch der DFB is viel zu dämlich, um als Kopf des Problems herhalten zu können. Da eignet sich die FIFA schon viel besser. Und der Moderne Fußball auf jeden Fall. Ganz falsch ist wahrscheinlich alles nicht. Denn selbst die kleinen regionalen Verbände könnten mit etwas Rückgrat und Sturheit einfach ihr Ding durchziehen. Aber dann würden ihnen die Vereine und einige Fans die Hölle heiß machen. Ganz zu schweigen von den anderen Verbänden und dem allmächtigen Mitteldeutschen Rundfunk. Ich hab aber das dumpfe Gefühl, dass so eine Analyse zu kurz greift. Sie bleibt irgendwie stecken. Deshalb muß es, wie immer, dann doch um’s Ganze geh’n.
In Sachen Fußball bedeutet das, dort anzugreifen, wo alles anfing. Nämlich in der Entwicklung des Fußballs zum Phänomen der Massen, zum konsumierbaren Objekt, das sich vorzüglich kommerzialisieren und verwerten läßt, bis er schließlich selbst zur Industrie wird und im Rahmen verschiedener Geschäftsmodelle für Milliarden Profite sorgen kann. Die zunehmende Industrialisierung des Fußballs auf der sportlichen Ebene war von Beginn an mit einer massiven Inszenierung als Massenspektakel verknüpft. Auf dem Rasen verwandelten sich die Aktiven in millionenschwere Söldner, in eine mythisch reiche Elite, in legendäre Held*innen. Auf den Rängen sorgten die Ultras für eine atemberaubende Performance und kollektive Ekstase. Das Wochenende war fest in der Hand einer paradox dialektischen Bewegung, die ungebremste Freiheit, progressive Selbstorganisation und den Rausch der Auflösung im Kollektiv auf der einen sowie ein buntes, lautes, unnachgiebiges, aber vor allem verwertbares Spektakel auf der anderen Seite bedeutete. Die organisierten Kurven und die grandiosen Choreographien passen einfach vorzüglich in die Gesellschaft des Spektakels, die alle, alles und jede*n aufsaugen, assimilieren und am Ende umdrehen können. Es war eigentlich kein Wunder, dass Pay TV und Co sich über die Ultras freuen und so ihr Produkt vorzüglich verkaufen können.
Hinzu kommt die zunehmende Prekarisierung des Arbeitslebens. Die Auflösung der vermeintlich revolutionären Arbeiter*innen-Klasse, die Schwächung der Gewerkschaften, die sich mit jenen verbünden, die sie abwickeln wollen, die Explosion prekärer Beschäftigung vor allem im Dienstleistungssektor und die Etablierung einer quasisakralen Life-Style-Klasse, die immer nur nach dem nächsten Kick sucht, nach dem fetten emotional umwerfenden Event, hat am Ende auch zur Folge, dass die traditionelle Woche zerfällt. Denn jeder Tag brauch sein Spektakel. Auch wenn es nur ein Fußballspiel is!
Und so war ich am vergangenen Sonntag, am 2. Spieltag der neuen Saison, in der es gegen Bautzen ging, quasi gefangen im Dilemma später Terminierungen, existenziellem Broterwerb und dem Wunsch zusammen mit Freund*innen das Team zu supporten. Das is echt ärgerlich. Es nervt. Und sowas muß wirklich nich sein.
Zuerst veröffentlicht im Ultra Unfug #132 zum Spiel gegen Neugersdorf
Schlagworte: Anti Adidas, No al calcio moderno, Wat'n Theater