Wat’n Theater XV – Vorsicht mit Mythos

mythosIn der letzten Kolumne hatte ich schon begonnen mir über Mythen und Legenden Gedanken zu machen. Leider ist mir beim Schreiben aber der Faden entglitten. Aber ich denke, ich hab ihn wiedergefunden. Also: Nochmal von vorne. Was sind Mythen und Legenden. Heute haftet Ersterem etwas Unwahrscheinliches, Unwahres, Ausgedachtes und vor allem religiös Verklärtes an. Mythen sind demnach zwar interessant und spannend, aber ernsthaft daran glauben, macht keine*r mehr. Legenden habens da schon besser. So richtig stimmen, scheint an denen zwar immer noch nicht alles. Oft werden sie übertrieben. Aber trotzdem mögen und brauchen sie viele. Im Übrigen werden heutzutage ja Menschen und Persönlichkeiten oft als Legenden bezeichnet.

Eigentlich sind Mythen gesagte, gesprochene, also erzählte oder auch gesungene Dichtung über die großen Zusammenhänge. Nämlich die Verbindung von Göttern und Menschen und ihre Feste. Sie sind also der Inhaltliche Ursprung des performativen Spektakels. Los gings auf religiösen Partys für den Gott Dionysos, auf denen mit jeder Menge halluzinogener Drogen und Chorgesang gefeiert wurde. Danach etablierten sich die antiken Theaterwettbewerbe, bei welchen die Dichter*innen den mythischen Stoff bearbeiteten und erste Regeln entstanden. Die römischen Spektakel waren auch nicht schlecht, wobei hier lediglich ein paar mehr Schauspieler hinzukamen. Den richtig fetten Schub an Action auf der Bühnen gabs allerdings erst im Mittelalter. Die aufgepeppten Mysterienspiele zu Ostern und Weihnachten boten den Akteur*innen und Zuschauer*innen von Angst und Schrecken bis zum Klamauk alles, was die Unterhaltung so hergab. Das zivilisierte Theater der Bürger*innen und erst recht die lediglich zweidimensionalen Lichtbilder des kinomatographischen Apparats müssen gegen die älteren Feuerwerke der Mythen einfach nur ein langweiliger Abguss gewesen sein. Selbst die modernen 3D Mythen reißen da nix mehr raus. Also: Mythentechnisch war die Antike und das Mittelalter einfach mal viel krasser drauf. Legenden sind übrigens was ganz anderes. Nämlich während Mythen verbalisierte Dichtung sind, in der Götter und imposante Held*innen großartige Taten vollbringen, sind Legenden verschriftlichte Sagen, Märchen und Anekdötchen von irgendwelchen „heiligen“ Menschen. Mit der Wahrheit sehen es die Dichter*innen von Legenden auch nicht so eng. Wie der Mythos wird sich eher an symbolisch Sakralem orientiert und die Erzählung um ein bisschen Wahrscheinliches ergänzt, allerdings nicht ohne das Wunderbare ganz zu vergessen. Denn Letzteres steht wie auch bei den Mythen im Zentrum der Geschichte.

Mythen gibt’s heut nicht mehr. Manche meinen, sie zwar immer noch ausgraben zu müssen – wie zum Beispiel diese Wagnerianer*innen, die immer wieder die blödsinnigen deutschnationalen Mythen heraus kramen. Oder irgendwelche Exklusionsfetischist*innen entdecken irgendwelche heidnisch germanischen Wurzeln und vernebeln sich die Birne auf ihren Thingfesten. Besonders gruselig wird’s aber in Osteuropa. Die Est*innen sind zum Beispiel besonders stolz auf ihre Üldlaulupidu, ihre völkischen Liederfeste. Ihre Emanzipation von der Sowjetunion nennen sie dementsprechend auch „Singende Revolution“. Da klingelt die spießbürgerliche Harmlosigkeit so was von laut, daß mensch glatt glauben könnte, die Est*innen hätten irgendwas mit den toitonischen Kartoffeln zu tun… Upps, haben sie ja. Die Ritter des Deutschen Orden haben seit dem 13. Jahrhundert ganze Arbeit geleistet, damit das Baltikum ein hübsch reaktionärer, konservativ unbeweglicher Landstrich bleibt…

Ahh… Apropos Unbeweglichkeit. Der großartige Roland Barthes, ein französischer Philosoph des 20. Jahrhunderts… Hihi, wie das klingt. Als ob das 20. Jahrhundert ewig weit her ist. Naja… Also: Dieser Roland Barthes hat offenbar gerne Karl Marx gelesen und so einiges von ihm gelernt. In Sachen Ideologie und Mythos war dieser Franzose besonders ungehalten. Er meint(e), dass das Bürgertum, also die herrschende Klasse, den Mythos nutzt, um politische und historische Entwicklungen als „natürlich“ zu begründen, und so emanzipatorisches Handeln unterdrückt. Der Zweck des Mythos ist demnach „die welt in ihrer unbeweglichkeit zu halten“. Mit der Betonung des vermeintlich Menschlichen – zum Beispiel bei den Humanist*innen – wird jede*r einzelne vergesellschaftet und Teil einer angeblich großen Familie der Menschen. So wird jede Differenz der Klassen, der marginalisierten Gruppen und Menschen verwischt. Die sozialen Widersprüche werden mit einem „Natürlichkeitsschleim“ überzogen, der jede Emanzipationsbewegung verhindert… Puh… Das klingt krass, nich. Ich bin ja auch nicht so der Marx Leser*in. Da sind mir zu wenig Bilder drin. Und die Sätze sind zu lang. Bei Barthes siehts übrigens nicht viel anders aus. Aber gut.. Ich denke, was der kluge Mensch uns klarmachen will, ist, dass das ganze Gelaber von Natürlichkeit zum Beispiel in Bezug auf die Verschiedenheit der Geschlechter, der sozialen und ethnischen Gruppen, der historischen Entwicklung, der Zivilisierung der westlichen Gesellschaften, der Mythos vom Ultra‘ oder der Kutte, dass all das nur ideologische Knoten sind, die unser Denken binden sollen. Viel wichtiger ist es sich mit den Mythen auseinanderzusetzen, ihre Fiktionalität offenzulegen und sie als das zu entlarven, was sie sind: nämlich Illusionen einer vermeintlich unbeweglichen Gesellschaft.

Tja, das klingt ja alles ganz interessant. Aber was hat das mit Fußball, Fankultur und der Nordkurve zu tun. Hmmm… Bei uns gibt’s wenig Gött*innen und Held*innen, die sich in ausgiebigen Festen feiern lassen. Quasiheilige Menschen, die aufgrund ihrer Taten respektiert werden und sich beinah alles erlauben dürfen, hab ich in der Nordkurve bisher auch noch nicht gesehen. Zur sakrosankten Legende reicht es eben nicht, Gidist*innen zu verhaun. Und Legenden dürfen auch nicht diskriminierend rummackern und pöbeln. Also: Mythen im klassischen Sinne sowie Legenden gibt es in unseren Kreisen tatsächlich wenige. Aber es gibt sie. Mir fällt da sofort der Mythos von der gewaltvollen Ultra-Bewegung ein, die in Kämpfen um Banner, Territorien und Vorherrschaft sowie in Freund- und Feinschaften gewachsen sein soll. Immer wieder tauchen in diesem Zusammenhang sagenhafte Auswärtsfahrten und Schlägereien sowie legendäre Capos auf. Die Ultras sollen das antagonistische Herz der Kurve und der Stadt gewesen sein… Diese Dichtung ist längst zum Mythos geronnen. Die Reproduktion und das Festhalten an einer vermeintlich feststehenden Mentalita ist aber eigentlich ein festhalten an einer spektakulären Illusion, die unhinterfragbar still steht. Die Postille „Blickfang Ultra“ zum Beispiel ist meiner Ansicht nach eines der Medien, welche die Trivial- oder auch Infantil-Mythen einer Bewegung bis zur Unbeweglichkeit konserviert. Der „Ultra Unfug“ dagegen ist viel zu chaotisch, um irgendwelchen Mythen Futter zu geben.

Aber auch die Nordkurve hat ihre Mythen. Zum Beispiel den von den Pyroman*innen vom Rhoten Rhombus. Oder auch die beinah in Stein gemeißelte antifaschistische, antirassistische, antisexistische, antihomophobe… kurz: die ultra progressive Grundhaltung der Fans in der Nordkurve. Bei uns siehts im Vergleich zu anderen Kurven tatsächlich ganz gut aus. Aber auch wir müssen weiterhin daran arbeiten, dass dieses positive Bild einer diskriminierungsfreien Fankultur nicht zum Mythos verkommt, sondern gelebte Wirklichkeit bleibt.

Ich hab ja auch so meine großen, angehimmelten Legenden. Die hab ich bei der 100-Jahres-Feier des AS Livorno gesehen. Aber das ist eine ganz andere Geschichte. Die erzähle ich euch im nächsten Heft…

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