Istanbuler Fußballfans vor Gericht

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Am 26. Juni 2015 sollten in Istanbul die Staatsanwaltschaft und die Verteidigung im Prozess gegen 35 Fußballfans, Polizist*innen, Ermittlungsbeamt*innen und Richter*innen wegen Putschversuchs das Plädoyer halten und das Urteil gesprochen werden. Es ist dies nach dem Verfahren gegen das Bündnis Taksim Solidarity Platforma der zweite und größte Prozess gegen Aktivist*innen, die sich rund um den Gezi Park engagiert haben. Doch es kam anders. Nach nur 10 Minuten wurde der Prozess auf den 11. September 2015 vertagt. Das heißt, nur wenige Tage nach dem zweiten Jahrestag der Räumung des Gezi Parks am 15. und 16. Juni 2013 gab es keine Verurteilung. Das Verfahren richtet sich im Übrigen in erster Linie gegen vermeintliche Mitglieder der Beşiktaş-Fan-Gruppe Çarşı. Den Beschuldigten droht lebenslänglich sowie die Feststellung der besonderen Schwere der Schuld ohne Aussicht auf vorzeitige Haftentlassung.

Mitglieder des Vereins Gesellschaftsspiele waren vor Ort in Istanbul [ihr Bericht und Bilder sind hier zu finden, d.R.] und haben uns berichtet, was am jüngsten Verhandlungstag los war. Peter und Luise von Gesellschaftsspiele schrieben, dass neben den 35 Angeklagten und ihren Anwält*innen ungefähr 100 Beşiktaş-Fans vor Ort waren, die aber aufgrund der Größe des Verhandlungssaals nicht eingelassen wurden. Die Wahl des viel zu kleinen Raums ist auch deshalb ungewöhnlich, weil es sich bei dem Istanbuler Gerichtsgebäude um das zweitgrößte in Europa handeln soll. Es ist, so schreibt Peter, ein monströses Teil. Als Beobachter*innen waren außerdem Özcan Mutlu, der sportpolitische Sprecher der Bundestagsfraktion von Bündnis 90 / Die Grünen, fünf türkische Parlamentsabgeordnete der Cumhuriyet Halk Partisi (CHP), der kemalistischen Republikanischen Volkspartei, Mitarbeiter*innen des deutschen Konsulats in Istanbul, Mitglieder vom Republikanischen Anwältinnen- und Anwälteverein (RAV), ein*e Vertreter*in der Rostocker Fan-Hilfe sowie einige Journalist*innen von türkischen und deutschen Medien anwesend.

Çarşı kam mit einem Transparent zum Gericht, das Gewalt an Frauen verurteilt, und hängte es vor dem Gebäude auf. Darauf war, so schreibt Peter, eine verbeulte Karikatur von Justitia zu sehen, was durchaus auch als Verweis auf das aktuelle Verfahren interpretiert werden kann. Schließlich ist das Verfahren gegen Çarşı nicht nur ein Angriff auf den Rechtsstaat, sondern auch eine Misshandlung der Frau Justitia. Denn der türkische Staat will, wie dieses Verfahren beweist, Menschen ohne echte Beweisführung in den Knast stecken, während er das Problem von Gewalt gegen Frauen nicht ernst nimmt. Damit zeigen sich die Fußballfans nicht nur solidarisch mit ihren Freund*innen auf der Anklagebank, sie setzen außerdem öffentlichkeitswirksam ein Zeichen gegen Gewalt gegen Frauen.

Die Fans blieben aber nicht lange draußen. Sie zogen ins Gerichtsgebäude und warteten beziehungsweise baten am Eingang zum Verhandlungssaal lautstark um Zutritt. Währenddessen scherzten und rauchten 5 der 35 Angeklagten auf dem Gerichtsklo. Im Saal selbst führte die Staatsanwaltschaft den Fund einer Schreckschuss-Pistole oder einer Pistole zum Abschuss von Leuchtspurmunition ein, deren Besitz erst seit kurzer Zeit verboten ist. Unabhängig vom Rechtsgrundsatz „Nulla poena sine lege“ (Keine Strafe ohne Gesetz) wird absurderweise tatsächlich diskutiert, ob die Pistole während des „Putschversuchs“ eingesetzt wurde. Aus diesem Grund ist es offenbar enorm wichtig festzustellen, ob der Beschuldigte die Pistole bereits zum Zeitpunkt der Proteste um den Gezi Park besessen hat oder nicht. Nicht betrachtet wurde, ob mit einer solchen Pistole überhaupt ein Putsch möglich ist. Aber das verwundert nicht sonderlich bei der Verfahrensführung durch das Gericht.

Als nach 10 Minuten der Prozess auf den 11. September vertagt wurde, zogen die Beşiktaş-Fans, auch wenn es (noch) keinen Freispruch gab, singend und feiernd durch das Gericht. Die im Gebäude anwesenden Menschen kamen aus ihren Räumen und schauten offenbar durchaus mit Sympathie zu. Polizei war nicht vor Ort und das Sicherheitspersonal hatte nichts gegen die spontane Feier. Vor dem Gerichtssaal wurde noch ein Rauchtopf gezündet, was keine*n vom Sicherheitspersonal gejuckt hat, schreiben Peter und Luise. Der Zusammenhalt unter den Fans war deutlich zu spüren. Die Stimmung vor dem Gerichtssaal war tatsächlich ein bisschen wie im Stadion. Die Angeklagten und Unterstützer*innen umarmten sich, machten dumme Witze und sangen, beschreibt Peter die Situation vor Ort. Das scheint den Druck, der auf den Angeklagten lasten muss, sichtlich gemindert zu haben. Deshalb war die Stimmung auch irgendwie zwischen Anspannung und totaler Lockerheit zu verorten. Die Zusammenhalt in der Gruppe ist größer als das kafkaeske Gericht, analysiert Peter die Situation. Das hat sich am Sich-Selbst-Feiern von Çarşı nach dem Prozess gezeigt. Wenig später sind die meisten dann entspannt einen Tee trinken gegangen, schreibt Peter.

Ungefähr eine Woche vor dem dritten, eigentlich abschließenden Verhandlungstag fand in der Neuköllner Werkstatt der Kulturen eine Veranstaltung unter dem Titel „Mit schweren Geschützen gegen die Istanbuler Gezi-Proteste“ über das Strafverfahren gegen den Fußballfanclub Çarşı wegen vermeintlichen Putschversuchs statt. Organisiert wurde der Abend von amnesty international und dem Republikanischen Anwältinnen- und Anwälteverein (RAV). Auf dem Podium saßen Inan Kaya, Beşiktaş Fan und Verteidiger im Prozess gegen Çarşı, Selmin Çalışkan, Generalsekretärin der amnesty international Sektion in Deutschland, sowie Anna Luczak vom RAV. Trotz der interessanten und pointierten Berichte über die Hintergründe und das Verfahren, die immer wieder ins Absurde kippten sowie Lachen und Kopfschütteln auslösten, blieb am Ende doch etwas Ratlosigkeit ob des beinah schon kafkaesken Justizspektakels. Aber kommen wir zu den Hintergründen im Einzelnen.

Inan Kaya, nicht nur Verteidiger im Prozess, sondern auch schon seit Jahren aktiv für Çarşı, begann seine Ausführungen mit einer Beschreibung über die Fangruppe. Zunächst erklärte er, dass es sich bei Çarşı nicht um Ultras handelt. Genauso wenig gibt es eine wie auch immer geartete offizielle Mitgliedschaft oder eine Beitrittsmöglichkeit zur Gruppe. Es gibt keine festen Organisationsstrukturen sowie Hierarchien. Es wird lediglich verlangt, Beşiktaş-Fan und politisch aktiv zu sein, zu den Spielen zu kommen und vor allem gute Witze machen zu können. „Çarşı ist ein Geist und kein Körper“, erklärte Kaya. Çarşı ist überall auf den Traversen. Die Gruppe, wenn mensch sie tatsächlich so nennen möchte, entstand aufgrund von Ungerechtigkeiten im Stadion, zu denen einzelne Fans Stellung bezogen. Als erstes gab es einen gemeinsamen Treffpunkt vor den Spielen. Dann kam das Banner. Heute ist Çarşı zu einem Symbol der Freiheit geworden, das immer dann zu sehen ist, wenn gegen Ungerechtigkeiten und Diskriminierung interveniert wird. So organisierte die Gruppe Solidaritätsaktionen gegen rassistische Polizeigewalt und unterstützte unter anderem Opfer des Erdbebens in Van im Jahr 2011 oder des Grubenunglücks von Soma im Mai 2014. Des Weiteren engagieren sich die Anhänger*innen gegen Atomkraft und Kinderarbeit. Aber vor allem ist Çarşı am 1. Mai aktiv. Und die türkische Regierung mag keine Fangruppen, die an den Demonstrationen zum Arbeiter*innen-Kampftag teilnehmen. Aber auch die Unterstützung des Gezi-Protestes war offenbar staatlich unerwünscht, was die Sicherheitskräfte auf den Plan rief und schlussendlich zum Prozess gegen Çarşı führte.

Die politische Situation 2013 war, so Kaya, bereits vor den Gezi-Protesten äußerst angespannt. Der 1. Mai zum Beispiel war dominiert von heftigen Auseinandersetzungen zwischen Demonstrant*innen. Vor allem der Stadtteil Beşiktaş versank in Tränengas-Nebel. Es war zu erwarten, so Kaya, dass auch der Protest im Gezi Park mit massenweise Tränengas untergehen würde. Dennoch kamen immer mehr Unterstützer*innen auch aus dem Stadtviertel Beşiktaş, als die Aktivist*innen der Umweltbewegung im Park von der Polizei attackiert wurden. Irgendwann hing auch ein Çarşı-Banner in den Bäumen und immer mehr Beşiktaş-Fans unterstützten den Protest, ohne dass es je einen offiziellen Aufruf gab. Wer das Banner gemalt hat und wie es dahin kam, weiß selbst der zu den älteren Fans zählende Kaya nicht.

Çarşı, so betont Kaya, wollte von Beginn an Politik mit einem Lächeln machen – außer selbstverständlich gegen Recep Tayyip Erdoğan. Der Protest sollte und soll möglichst kreativ und ironisch sein. Das schien auf der einen Seite den Aktivist*innen im Gezi Park zu gefallen. Aber auch der Rest der Bevölkerung schien Çarşı ins Herz geschlossen zu haben, meint Kaya. Die Fans schienen beliebter, als vorher gedacht. Eine Demo, die in Beşiktaş startete, wuchs schnell von ein paar hundert Teilnehmer*innen auf 5.000, als der Zug am Gezi Park ankam und zum Taksim Platz weiter zog. Ohne Aufruf beteiligten sich am Ende 170.000 Menschen am Protest gegen die Räumung des Parks. Die Gesänge der Fans wurden aufgenommen und radikalisiert, erzählt Kaya. Überall an den Wänden rund um den Taksim Platz war Çarşı gesprüht, erzählt Kaya mit ein bisschen Stolz. Çarşı hatte sich in einen Mythos verwandelt, der für einen neue Politik, andere kreative und ironische Aktionsformen und eine neue Organisationsform stand. Kaya ergänzte aber, dass ihn diese Sichtbarkeit und der Fokus auf die Gruppe auch erschrocken hat und er Angst bekam, was danach passieren würde. Und im Nachhinein muss festgestellt werden, dass diese Ängste nicht unbegründet waren.

Am 15. Juni 2013 wurde der Park endgültig geräumt. Bereits zuvor gab es, wie bereits beschrieben, eine starke Sympathiebewegung mit Çarşı, aber auch erste Fahndungen der Sicherheitskräfte nach den vermeintlichen Führer*innen der Gruppe, wobei Letzteres von den Beteiligten nicht wirklich ernst genommen wurde. Am Tag der Räumung wurden 22 Personen von Beamt*innen einer Sonderkommission gegen Organisierte Kriminalität wegen Plünderung und Erpressung verhaftet. Warum ausgerechnet diese Einheit zum Einsatz kam, was selbst bei den ausführenden Beamt*innen für Unverständnis sorgte, erklärt sich damit, dass bei Verfahren gegen die Organisierte Kriminalität ein Verschluss der Ermittlungsakten, aber auch die Zusammenarbeit mit Anti-Terror-Einheiten, möglich ist.

Die 22 Verhafteten saßen vier Tage in Gewahrsam. Am dritten Tag begannen die Vernehmungen. Eine*r der Beamt*innen soll gesagt haben, dass er sich auf diesen Tag, an dem ihm Çarşı endlich gegenüber sitzen würde, schon sehr lange gefreut hat und es nun endlich soweit ist. Kaya soll ihm entgegnet haben, erzählt er mit einem Lächeln, dass sie schon früher gekommen wären, wenn sie um ein Treffen gebeten worden wären. Aber kommen wir zurück zu den Ermittlungen. Die Anwälte der Inhaftierten gingen davon aus, dass es um Verletzung des Versammlungsrechts, Sachbeschädigung oder ähnliche Ordnungswidrigkeiten gehen würde. Aber die Beamt*innen warfen den Gefangenen einen Putschversuch vor, der mit einer lebenslangen Haftstrafe von bis zu 49 Jahren bestraft wird. In diesem Zusammenhang wurde Çarşı zur vermeintlich Terroristischen Vereinigung erklärt und ihre vermeintlichen Mitglieder als Putschist*innen vor Gericht gestellt.

Dass dieser Vorwurf völlig wirklichkeitsfremd und absurd ist – wie sollen Schals gegen Räumpanzer bestehen? – interessierte aber weder die Beamt*innen noch das Gericht. Demzufolge stellte sich schnell heraus, dass gegen Çarşı und die aktiven Fußballfans ein Exempel statuiert werden soll(te), das so schnell keine*r vergisst. Der Vorwurf ist aber dennoch besonders, da üblicherweise die Angeklagten in politischen Prozessen entweder wegen Beleidigung des Präsidenten oder der Nation vor Gericht gestellt werden, wie Çalışkan in ihrer Einführung in den Abend erläuterte. Das heißt, die Repression gegen aktive Fußballfans, denen Terrorismus und ein Putschversuch vorgeworfen wird, hat eine andere, den Rechtsstaat in seinen Grundfesten gefährdende Dimension.

Nach den Befragungen wurden mehr als drei Viertel der 22 Inhaftierten sofort oder unter Auflagen freigelassen. Lediglich 5 Personen kamen vor den Richter, wobei nur gegen zwei Haftbefehl erlassen wurde, sie aber auf Kaution entlassen wurden und ein Ausreiseverbot gegen sie verhängte wurde. Das heißt, alle 22 Inhaftierten waren nach vier Tagen auf freiem Fuß. Die Anwält*innen der Inhaftierten, wie zum Beispiel Kaya, gingen weiterhin von Verstößen gegen das Versammlungsrecht aus, was zu Geldstrafen führen könnte.

Wie bereits erwähnt, ermittelten Polizist*innen, Staatsanwält*innen und Richter, die gewöhnlich gegen die Organisierte Kriminalität vorgehen. Diese fühlten sich offenbar von Beginn an fehl am Platz und scheinen dies auch so geäußert zu haben. Denn im Laufe der Zeit wurden die Ermittlungen auch auf sie ausgeweitet, sodass am 16. Dezember 2014 das Verfahren gegen 35 Angeklagte, die zwischen 18 und 48 Jahre alt sind, unter denen sich auch Polizist*innen, ein Staatsanwalt sowie ein Haftrichter befinden, eröffnet wurde. Davon waren 34 Beşiktaş- und nur einer Fenerbahçe-Fan, der während der Proteste im Gezi Park mit einem Beşiktaş-Fan telefoniert hatte. An dieser Stelle betonte Kaya, dass keine*r der Angeklagten aus der Haft zum Prozess vorgeführt wurde. Sie waren alle frei. Die 13 später hinzugekommenen Angeklagten, wurden durch die Ermittlungsbehörden lediglich telefonisch zur Befragung vorgeladen. Deshalb kam die Anklage wegen Putschversuches gegen alle völlig überraschend.

Im Übrigen hat die Anklageschrift insgesamt lediglich 33 Seiten, wobei auf nur 12 Seiten die Vorwürfe gegen die Beschuldigten benannt wurden. Darüber hinaus werden in einer umfassenden Liste vermeintliche Partner*innen am Umsturzversuch aufgeführt, in der, so Kaya, nur der Islamische Staat als das ultimative Böse fehlte. Die Vorwürfe im Einzelnen sind: Angriff auf das türkische Innenministerium mit einem Bagger und einem Bulldozer in Instanbul und Ankara (wobei Çarşı in der Hauptstadt gar nicht aktiv ist); Entführung eines Räumpanzers (dessen Verlust der Istanbuler Polizei aber nicht bekannt ist, der Staatsanwaltschaft aber offenbar schon); Sensibilisierung der internationalen Öffentlichkeit auf die Proteste rund um den Gezi Park. Unabhängig davon, dass mit einem geklauten Bulldozer, Bagger und Räumpanzer – angenommen dies wäre alles so passiert – ein Putsch gegen eine hochgerüstete und kampferprobte Armee völlig unmöglich erscheint, legte die Staatsanwaltschaft bis heute keine Beweise für ihre Vorwürfe vor. Sie führte lediglich Abhörprotokolle ein, die im Zuge der unerlaubten Weiterführung einer Abhöraktion gegen Çarşı im Rahmen von älteren, eingestellten Ermittlungen wegen Organisierter Kriminalität entstanden.

Der Ablauf des Verfahrens ist nicht minder absurd wie die Anklageschrift. Der gesamte Prozess gegen wohlgemerkt 35 Angeklagte sollte nach drei Verhandlungstagen beendet werden. Diese unterteilen sich in: Erklärungen der Beschuldigten am 16. Dezember 2014, die fehlenden Erklärungen der Angeklagten und die Beweisaufnahme am 2. April 2015 sowie die Plädoyers und das Urteil am 26. Juni 2015. Darüber hinaus wechselte das Richter-Kollegium vom ersten zum zweiten Verhandlungstag sowie einer der Staatsanwälte wurde aufgrund seiner Nähe zur Millî Görüş Bewegung von Fethullah Gülen wegen Amtsmissbrauch inhaftiert. Anna Luczak vom RAV war am 2. Verhandlungstag als Beobachter*in vor Ort und berichtete in der Veranstaltung über ihren Besuch. Sie beschrieb sichtlich irritiert, dass die Verhandlung lediglich zwei Stunden dauerte. Auch die Anordnung im Gerichtssaal schien sie zumindest verwundert zu haben. Denn die Staatsanwaltschaft saß auf einer Ebene mit dem Richter-Kollegium frontal den Beschuldigten als Quasi-Publikum gegenüber. Ihre Anwält*innen saßen nicht bei ihren Mandant*innen, sondern alle seitlich an einem langen Tisch. Nach den fehlenden sieben Einlassungen der Angeklagten, die aus einem Gebet, einer politischen Erklärung, einer Beschreibung eines Anquatschversuchs durch die Sicherheitskräfte, einem cholerischen Wutausbruch usw. bestand, begann die „Beweisaufnahme“. Zum einen wurden vier Cops vernommen, die zunächst Anzeige erstattet, diese aber später zurückgezogen hatten. Zum anderen sagten zwei weitere Cops aus, die bei einer Durchsuchung eine Plastikflasche mit Rußanhaftungen gefunden haben wollen, die als Brandsatz und Sprengstoff geführt wurden. Auf den Hinweis, dass diese Flasche bereits in einem anderen, abgeschlossen Verfahren als Utensil zum Drogenkonsum gegen den Bruder des Beschuldigten identifiziert und akzeptiert wurde, reagierte weder die Staatsanwaltschaft noch das Gericht.

Trotz der fehlenden Beweise, die den Vorwurf der Bildung einer „Terroristischen Vereinigung“ und des Putschversuchs nur annähernd belegen können, wird der Prozess gegen die 35 Angeklagten fortgesetzt. Wie schon weiter oben erwähnt und wie von Kaya betont, geht es bei diesem Verfahren um nicht weniger als den türkischen Rechtsstaat: Entweder es kommt zu einer Verurteilung ohne Beweise, was einer Kapitulation vor der Regierung und dem Präsidenten Erdoğan gleichkommen würde. Oder die Beschuldigten werden freigesprochen, was aber angesichts der 5.000 anderen Verfahren gegen Gezi-Aktivist*innen sowie Jurist*innen kein Beweis für eine funktionierende Justiz in der Türkei wäre. Denn bis heute gibt es keine einzige Verurteilung wegen exzessiver Polizeigewalt gegen Beamt*innen, die für 8.000 verletzte Menschen und einige getötete Aktivist*innen verantwortlich sind. Stattdessen wurden die Befugnisse der Sicherheitskräfte erweitert. Die Gesetze wurden verschärft. Polizist*innen dürfen nun auch bei Protesten scharfe Munition gegen Demonstrant*innen einsetzen, wie die Generalsekräterin von amnesty international bei der Veranstaltung in Neukölln betonte. Also: Es bleibt abzuwarten, ob am vierten Verhandlungstag im September die Beschuldigten tatsächlich verurteilt oder freigesprochen werden. Für Carşı wird sich unabhängig vom Ausgang des Verfahrens wenig ändern – die Gruppe bleibt ein Stachel im totalitären Erdoğan-Regime, das zwar mit dem Parlamentswahlergebnis einen mächtigen Dämpfer erhalten hat, aber weiterhin die Strukturen in Polizei, Verwaltung und Justiz dominiert.

Zuerst veröffentlicht im Ultrash Unfug No. 9, der Sonderausgabe des Ultra Unfug zum Ultrash Festival.

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