Antifa Hooligans

rebelultras2003_23-06-2003

Es heißt „Iskhod“ – das Buch, das von einer offenbar wahnsinnig gewordenen Jugend am Rande der postsowjetischen Gesellschaft erzählt. Es geht um die Geschichte der Entstehung einer antifaschistischen Subkultur, in der, so scheint es, Musik, Fußball und Gewalt nicht voneinander zu trennen sind. Geschrieben hat es Pjetr Silaev.

Pit ist 1985 geboren. Da fing die Perestrijka an. Gorbatchov, der Held des Westens, wollte Friede, Freude, Eierkuchen herbeireden und erntete den Zerfall. Vor allem die marginalisierten Arbeiter*innen, die desillusionierten Intellektuellen, die Aussteiger*innen, Idealist*innen und progressiven Menschen blieben auf der Strecke. Die radikale Transformation der sowjetischen Gesellschaft und Ökonomie führte vor allem in den 90ern zu ideologischen Bastarden, in denen reaktionärer Stalinismus, traditioneller Faschismus und militanter Nazismus ineinander flossen: Kommunist*innen und Faschist*innen standen gegen Jelzin zusammen auf den Barrikaden. Die nationalbolschewistische Partei, die Hammer und Sichel mühelos in einen weißen Kreis auf rotem Grund integrieren konnte, ist nur die widerwärtigste Spitze dieser Entwicklung. Erschreckend ist deshalb, daß ausgerechnet diese Bewegung zur Avantgarde einer alternativen Subkultur werden konnte. Wenn sich mensch ihre AgitProp-Art heute anschaut, sind die Parallelen zur Kunst der italienischen Kulturbewegung rund um die faschistischen Besetzer*innen der Casa Pound frappierend.

Ab wann mensch tatsächlich vom Beginn der Entwicklung einer eigenständigen antifaschistischen Subkultur sprechen kann, ist fraglich. Wann erstmals aktive Fans offen als Antifaschist*innen aufgetreten sind, läßt sich viel besser sagen. Denn es waren unsere Freund*innen aus Minsk, die sich 2003 zu siebt hingestellt und den Nazis im Stadion den dicken Finger gezeigt haben. Bei der Freundschafts- und Solidaritätstour im März dieses Jahres haben sie uns Einiges davon erzählt: Wie sie in den ersten Jahren einstecken mußten. Wie sie von Nazis gejagt wurden. Wie sie begannen sich zu wehren. Wie die Wende kam, am 9. Mai 2006, beim Derby gegen Dinamo Minsk, und sie nicht mehr wegrannten, sondern stehenblieben.

Auch darum geht’s in „Izkhod“. Pit schleudert den Leser*innen Anekdoten entgegen, die zeitlich – bis auf den 9. Mai 2006 in Minsk – nicht konkretisiert werden können. Außer vielleicht von denjenigen, die dabei waren. Er erzählt von einer gewaltvollen Wanderung durch die ehemaligen Sowjetrepubliken, über eine Reise von einer Schlägerei zur anderen, von Kämpfen und Konzerten am Arsch der Welt. Er schreibt diese Zeilen im Exil. Er widmete das Buch seinem Freund Fedja Filatov. Der wurde am 10. Oktober 2008 von Nazis erstochen. Danach flüchtete Pit und begann im Dezember zu schreiben. Im Februar ist das Buch fertig. Und zwei weitere Antifaschist*innen tot. Am 19. Januar 2009 werden der Anwalt Stas Markelov und die Journalistin Nastja Baburova mitten im Zentrum von Moskau, nicht weit vom Kreml entfernt, von einer klandestinen Naziterrorzelle hingerichtet. Bis das Buch rauskommt, wird ein weiterer Antifaschist ermordet. Il’ja Dzhaparidze, Fußballfan von Dinamo Moskau, wurde am Morgen des 28. Juni 2009 unmittelbar vor dem Spiel ermordet, bei dem er und seine Freund*innen das Banner „Futbol protiv Racizma“ (Fußball gegen Rassismus) aufhängen wollten. „Iskhod“ erscheint im Oktober als Samizdat-Ausgabe. Nur wenige Tage später wird Vanja Khutorskoj erschossen.

Die ermordeten Menschen waren engagierte Aktivist*innen. Sie waren wichtige Persönlichkeiten für die Entwicklung einer antifaschistischen Subkultur. Und drei von ihnen, Fedja, Il’ja und Vanja waren Fußballfans. Pit war Musiker. Er war für die erste russische Website zur Straight Edge Bewegung verantwortlich. Er gründete 2005 die Hardcore Band Proverochnaja Linejka, die bis 2006 existierte. Danach ging’s mit Ted Kaczynski – alias der Unabomber – weiter. Er gab drei Nummern seines Straight Edge Zine IMHO (in my humble opinion) heraus, bis er wieder als DJ Stalingrad auf Tour ging.

Das Buch ist grausam und faszinierend zugleich. Die oft sinnlose Gewalt und die Freude daran sind unerträglich. Auf der anderen Seite gibt es winzige reflexive Risse, die den Schmerz hinter dem Exzess sichtbar machen. Denn nicht Menschenfeindlichkeit und Wahnsinn treiben die russischen Antifa Hooligans, sondern die Lebensgier, die Revolte gegen jede bürgerliche Konvention, der Widerstand gegen das An-den-Rand-drängen, gegen die herabwürdigende existenzielle Bedrohung in der postsowjetischen Gesellschaft und vor allem der Haß gegen faschistische Bevormundung. Sie sind Skinheads, Anarchist*innen, autonome Musiker*innen und Antifa Hooligans.

Die antifaschistische Fankultur in den ehemaligen Sowjetrepubliken entwickelte sich, seitdem die Minsker*innen öffentlich Stellung bezogen, nur allmählich. Erst mußte eine antifaschistische Szene jenseits der nazidominierten Subkulturen wachsen. Pit, seine Bands, aber auch What we feel, Distemper und andere Crews erkämpften sich ihre Freiräume und verteidigten diese gegen Faschist*innen und Sicherheitsbeamte. Die Auseinandersetzung gehörte dazu, damit andere geschützt waren. Ohne die Kämpfe, das betonen die Minsker*innen auch heute noch, wären sie nicht mehr da. Sie mußten sich wehren, um zu überleben. Das galt insbesondere für die antifaschistische Fußballkultur, die deshalb bis heute nicht ohne Gewalt auskommt. Wobei der Diskurs sich verschoben hat und durchaus darüber nachgedacht wird, inwieweit der Hang zur Gewalt nicht längst zum sinnentleerten Fetisch geworden ist.

Doch zunächst einmal führte der Respekt dazu, daß in anderen Vereinen und auch außerhalb von Belorus antifaschistische Fußballfans zusammen kamen und als solche offen auftraten. Am bekanntesten sind hierbei die Ultras Arsenal Kiev, die aktuell um ihren bankrott gegangenen Klub bangen, und die Fans von Korelja-Diskaveri Petrosvodsk. Die Solidarität und Kontakte untereinander waren und sind enorm. Dennoch bleibt leider festzustellen, daß immer noch in erster Linie die Fäuste und erfolgreiche Kämpfe im Zentrum stehen. Eine ausdifferenzierte Fankultur ist selten. Hooliganismus und Ultrà lassen sich, wie mir Ksenja und Marusja aus Minsk im Interview erzählten (siehe Basch Nr. 39 und 40), nicht voneinander trennen. „Alles wurde von ein und denselben Leuten gemacht, die mit dem ganzen Herzen dem Verein und der Kurve verpflichtet sind“, meinte Marusja und ergänzt: „Kämpfe sind einfach Teil unseres Lebens.“

Aus unserer Perspektive, egal, ob wir nun die der Nordkurve in Babelsberg wählen oder die der Südkurve am Millerntor, mag diese Gewalt und der Fokus darauf schlicht nicht nachvollziehbar sein und deshalb ablehnenswert erscheinen. Auf der anderen Seite gibt es bei uns seit Jahren zahlreiche emanzipatorische Bündnisse. Seit den 90ern organisieren aktive Fans Antifa- und Antira-Turniere. Im Stadion und drumherum intervenierten antifaschistische Fußballfans und durchbrachen zunehmend die Nazi-Hegemonie in der Kurve. Der Wandel von unkreativem Hool- und Kutten-Support zum Dauertifo und aufwendigen Choreographien durch die Ultras änderte ebenfalls den Fokus. Bei unseren Freund*innen im Osten gibt es kein Bündnis Aktiver Fußballfans. Die Verbände sind genauso desinteressiert wie im Rest von Europa. Die Vereine, die als Vorreiter einer solchen Entwicklung wegweisend sein könnten, sind Pleite oder spielen in unteren Ligen. Außerdem tut die Repression gegen Fußballfans ihr Übriges, eine progressive Entwicklung zu verhindern.

Aber nichtsdestotrotz geht es voran. In Minsk kommen immer mehr junge Menschen zu den Spielen. Ihre Freizeit vergeuden sie nicht (nur) mit Abziehen oder Abgezogenwerden. Sie laufen nicht als uniformierte Macho-Hools zum Stadion. Ganz im Gegenteil: Es pilgern Familien, Kinder, Großväter, Punks, Skins, Hooligans usw. gemeinsam zu den Spielen. Die langjährigen Fans wie Ksenja von Partizan-MTZ, die seit 2005 Einiges inklusive der Gründung und Auflösung der Frauenultragruppe Girls Stand United (GSU) mitgemacht hat, kümmern sich um die Jüngeren und zeigen ihnen ein Engagement für den Verein ohne Gewalt.

Pit, alias DJ Stalingrad, beschrieb vor nunmehr fast fünf Jahren die gewaltvolle Wirklichkeit im Russland der Nullerjahre und insbesondere in dem Jahr, in dem fünf Antifaschist*innen innerhalb nur weniger Monate von Nazis ermordet wurden. Weit sind wir davon heute nicht entfernt. Erst vor wenigen Wochen zog ein xenophober Mob in dem Moskauer Stadtteil Birjulovo zum Pogrom. Die Sicherheitsbehörden assistierten den militanten Nazis und nationalistischen Fußballfans, die lieber hunderte Migrant*innen festnahmen, als sich um den fremdenfeindlichen Pöbel zu kümmern. Da werden Erinnerungen wach: An die Überfälle auf Märkte zu Beginn des neuen Jahrtausends; an die Ausschreitungen auf dem Manegeplatz 2002 und 2010, die maßgeblich von Nazihools organisiert wurden; an die sogenannten Russischen Märsche, die seit 2005 am 4. November immer wieder tausende Nationalist*innen auf die Straße bringen oder auch an die Geburt der Dvizhenie protiv nelegal’noj Immigracii (Bewegung gegen illegale Einwanderung), der bis 2011 größten und heterogensten Naziorganisation, die patriotische Russ*innen und militante Nazis vereinen konnte. Bekannte Antifaschist*innen werden glücklicherweise zur Zeit nicht mehr ermordet, dafür verrotten sie im Knast.

Der folgende Auszug [nachzulesen hier] aus dem Buch „Izkhod“ erzählt vom 9. Mai 2006, dem Tag des Sieges, als die Fans von MTZ-Ripo (heute Partizan-MTZ) beim Derby gegen Dinamo Minsk sich der Übermacht der Nazis stellten und erstmals widerstanden. Ich habe mir die Mühe gemacht, den Text selbst nochmal zu übersetzen und nicht die seit Kurzem verfügbare deutsche Version aus dem Buch „Exodus“ (Matthes & Seitz Berlin, 14,90 Euro) zu benutzen. Die Übersetzung ist zum Teil grottenschlecht. Aber ich würde das Buch trotzdem empfehlen. Also jetz‘: Com’on! Com’on!

Veröffentlicht im Diario di Dario #4 im November 2013. Das Bild ist übrigens eines der ersten vom MTZ-Ripo Fansektor. Aufgenommen wurde es am 23. Juni 2003 beim Spiel gegen Vedrich-97 (Rechitsa).

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