Minsk 9. Mai 2006

izkhod_9mai2006_illustrationEin Freund hat mir einen Windbreaker geschenkt, eigentlich hat er ihn mir nicht geschenkt, sondern geborgt, für eine Auswärtsfahrt, damit ich nicht so heruntergekommen aussehe, wie sonst. Das ist echt ein großes Problem für mich, ich habe überhaupt kein Verhältnis zu Bekleidung, ich übernehme die alten Klamotten der Verwandten, stopfe meine Socken, ich schmeiße Schuhe erst dann weg, wenn die Sohle abfällt. Aber es sollte auf eine wichtige Auswärtsfahrt nach Minsk gehen und mir wurde gesagt, daß ich ordentlich aussehen soll. Also habe ich einen blauen Windbreaker von Duffer bekommen, mit Kapuze, enganliegend, ohne Taschen. Auf dem Logo war vier mal der Buchstabe D, verbunden zu einem Hakenkreuz.

Tag des Sieges. Klares Wetter, die Sonne brennt, die Straßen sind ordentlich, wie in einer antiken Totenstadt. Überall ist es sauber, steinerne Riesen, übermächtiger Beton. Fünfzig Menschen laufen durch das Zentrum, sie brüllen, lärmen, lachen. Eine nervöse Lebendigkeit, die Euphorie der Verdammten, so wie wir sie lieben. Die ganze Stadt haßt uns, die Wände der kommunistischen Hauptstadt umkreisen uns in Ringen, glückliche Familien flanieren über die Prospekte, die Kinder zeigen verängstigt mit Fingern auf uns. Bullenwannen rasen an uns vorbei, sie stehen längst dem machtlos gegenüber, was in ein paar Minuten passieren wird. Wir verlassen den Prospekt und biegen in Richtung Stadion ab. Lukaschenko ist auf das Treffen mit den wilden Gästen nicht vorbereitet. Wir laufen die Straße runter, vorne sind bereits die Kassen zu sehen.

Um die Ecke, Welle um Welle, strömen Massen von Hooligans, alle sind da, Moskauer, Leute aus Brest, Einheimische, sie alle wollten uns ein für alle Mal den Garaus machen. Ein Mob von 200 Menschen rollt in endlosen Wellen auf uns zu. Hinten höre ich, wie Kolja schreit: „Wir sind am Arsch!“ Das ist das Signal zum Angriff. Fedja stürzt sich allein mitten in ihre Reihen, wir sind sofort hinter ihm. Es ist so eng, daß keiner ausholen kann, ich habe mich mit irgendeinem Typen verhakt und eine Sekunde später fliegen wir schon in einen schwarzen Abgrund. Die Straße wird gebaut, überall ist der Asphalt aufgerissen, am Fundament eines Hauses sind tiefe Baugruben ausgehoben worden. Beide Horden treffen sich direkt darüber und die ersten Reihen fallen Schicht um Schicht in die Hölle. Der Typ zappelt und reißt an meinem neuen Duffer Windbreaker, wir geben unsere feindliche Umarmung nicht auf, stürzen in das Loch und fallen doch nicht ganz hinein, weil wir mit weiteren zehn Leuten in einem Knäuel verknotet sind. Wir beißen einander, die wir kopfüber in der Grube zusammenhängen, über uns sind noch zwei weitere Schichten Menschen, darunter Ruslan und ein paar unserer Jungs, die uns noch tiefer drücken, unter uns, am Boden der Baugrube aus Beton, ist Viktor, wissenschaftlicher Mitarbeiter eines biotechnischen Instituts, er schnappte sich mit eisernem Griff irgendeinen Raufbold und drückte ihm ein Auge aus. Minsk City, 2006.

Jetzt habe ich die Duffer wieder an, ich bin in meiner einzigen anständigen Jacke hierher gekommen, obwohl sie heute viele Löcher hat, nicht nur aus Minsk, auch aus Kiev und aus Rjazan… Die Jungs verarschen mich schon wegen der Jacke.

Veröffenlicht im Diario di Dario #4 im November 2013

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