Einführung in die Fankultur in Russland
Am 20. Oktober 2015 fand in der Kultur- und Schankwirtschaft Baiz die Veranstaltung Fankultur im russischen Fußball statt, die vom Verein Gesellschaftsspiele organisiert wurde. Es waren ungefähr fünfzig Menschen anwesend, die Interesse an der Annäherung an die russische Fankultur aus verschiedenen Blickwinkeln hatten, wie es in der Ankündigung hieß. Die Moderation übernahm Depta, bekannt durch Kopfstoss.fm. Als Gäste waren Pavel Klymenko von Football Against Racism Europe (FARE), der Gründer von CSKA Fans against Racism Robert Ustian und Ivan, Polit-Aktivist und Fußballspieler in der D.I.Y. League aus Moskau, anwesend.
Die Veranstaltung begann mit etwas Verzögerung mit einer Einleitung durch eine*n Vertreter*in von Gesellschaftsspiele. Etwas irritierend war, dass das Interesse an Russland und an der dortigen Fankultur aus der merkwürdigen Faszination und irgendwie fast barbarisch irrationalen Gewalt der Hooligans abgeleitet wurde. Es wurde eine Anekdote über „verbeulte“ Dortmund-Fans im Flieger erzählt, die von einem Championsleague Spiel aus Moskau nach Deutschland zurückkehrten. Dieses Schaudern angesichts der Gewalt aber auch der machtvollen Hegemonie fasziniert und irritiert tatsächlich, wobei ein ähnliches Phänomen bei der Mystifizierung und Heroisierung der italienischen Ultras, ihrer vermeintlich eindeutigen Mentalità und ihrem Campanelismo sowie bei den osteuropäischen Antifa-Hooligans wie zum Beispiel aus Minsk zu finden ist. Nach diesem skurrilen Einstieg begann die Veranstaltung, über die ich hier nicht chronologisch sondern thematisch berichten möchte.
Kommen wir zunächst zu den Anwesenden. Die Moderation übernahm Depta, ein FCEmerda Fan mit großer Osteuropa-Begeisterung. Wenn ich mich richtig erinnere, war er sogar länger mal im Wilden Osten, nämlich in Kazan, der Hauptstadt von Tatarstan. Er hat offensichtlich, wie kann es auch anders sein, wenn mensch dem wirklich dämlichsten brandenburgischen Klub die Daumen drückt, ein ziemlich irrationales Verhältnis zum Osten und Russland – nämlich ein beinah religiöses, eines, das ins Kulturalistische abzugleiten droht. Aber gut, lassen wir das. Kommen wir zu den anderen, viel interessanteren Gästen…
Pavel ist Osteuropa-Experte beziehungsweise Koordinator für FARE. Er organisiert und unterstützt Events in den osteuropäischen Staaten wie zum Beispiel ein LGBT Festival in Sibirien und fungiert als Scharnier zu den verschiedenen Initiativen dort. Darüber hinaus gehört das Monitoring rassistischer Vorkommnisse nicht nur in Russland zu seinem Aufgabengebiet. Robert ist Fußballfan, ich würde meinen eher der Tribünen-Sitzer*-Typ, von CSKA Moskau, der die Facebook Seite CSKA Fans against Racism aufgemacht hat und dort rassistische Ausfälle der eigenen Fanszene veröffentlicht und sie so skandalisiert. Ivan ist Antifa, Fußballfan und Aktiver in der D.I.Y. League in Moskau. Er hat leider weniger darüber erzählt, was er zum Beispiel in der D.I.Y. League so macht und wie die funktioniert, gab aber durch gute und reflektierte Beiträge über die Fankultur in Russland dem Abend doch eine gewisse Tiefe. Den Übersetzer Vitali will ich an dieser Stelle nicht vergessen. Denn er hat mindestens 1 ½ Stunden geflüstert für die Gäste ins Russische und für das Publikum zuerst vom Russischen später auch vom Englischen ins Deutsche übersetzt. Dabei sind leider, wie so oft bei Übersetzungen, zweidrei Fehler passiert. Das es derartig krasse waren, ist schade, aber schmälert meiner Ansicht nach nicht die Leistung des Übersetzers.
Aber kommen wir zum eigentlichen Thema der Veranstaltung, nämlich zur Fankultur in Russland. Die ist, so wurde dies zumindest von allen drei Anwesenden verkürzt, vor allem rassistisch und funktioniert durch Diskriminierung und Ausschlüsse. Erstaunlicherweise wurde die sowohl gesellschaftlich als auch fankulturell omnipräsente Gewalt sowie die Erfahrung mit Gewaltexzessen, mit der ja in die Veranstaltung eingeleitet wurde, ausgeblendet und nur indirekt erwähnt. Es ging vielmehr immer wieder um die rassistische Hegemonie in den Stadien. Wobei betont wurde, dass es Besonderheiten in der rassistischen Diskriminierung in Russland gibt und trotzdem nicht alle Fans als rassistisch bezeichnet werden können. So kann der russische Nationalismus vor allem in den patriotischen Sehnsüchten und Allmachtsphantasien durchaus multiethnisch sein, wobei rassistische Ressentiments gegen Kaukasier*innen und asiatische Migrant*innen Mainstream in der Gesellschaft sind. Selbst Robert gab einige merkwürdige und diskriminierende Äußerungen in Richtung Kaukasier*innen ab, die sich gottgleich bewegen sollen, vermeintlich alle und alles kaufen können sowie alles und jede*n (vor allem russische Frauen) herabwürdigen würden. Diese ehrliche Äußerung eines gutbürgerlichen Russen*, der*, selbst Kaukasier*, sich offensichtlich von der Anwesenheit reicher und armer, machistischer und extrovertierter, wenig sympathischer, vermeintlicher Kaukasier*innen bedroht fühlt, wurde durch Pavel glücklicherweise widersprochen.
Ivan hielt sich aus dieser Diskussion raus und betonte, dass selbstverständlich nicht alle im Stadion Rassist*innen wären. Der Prozentsatz ist aber, egal ob in Moskau, in der höchsten Liga, in Sibirien oder in unteren Ligen ähnlich hoch. Nur bei den sichtbareren, größeren Klubs fallen sie mehr auf. Er unterteilte die Situation der Fans und ihrer Verhaltensoptionen im Stadion in drei Reaktionen: Entweder sie beugen beziehungsweise kollaborieren mit den Rassist*innen, sie dulden sie oder, drittens, sie wehren sich gegen sie. Letzteres ist aber mehr als mutig. Deshalb fällt diese Option eigentlich aus. Die letzte Fangruppe, die in Russland offen antirassistisch auftrat, wurde einfach nur zerlegt. Dies war die Gruppe Kind Fists vom Verein FC Karelia Petrozavodsk (FCKP), die am 14. August 2010 beim Pokalfinale der Nord-West Region in Kingisepp südwestlich von Sankt Petersburg von mindestens 100 Nazi-Hools und militanten Nationalist*innen kurz vor Abpfiff der ersten Halbzeit, noch während des Spiels mit Flaschen, Steinen, Schreckschusspistolen, Messern und anderen Waffen angegriffen wurde. Zahlreiche Karelia Fans wurden zum Teil schwer verletzt. Es war offensichtlich eine organisierte Nazi-Aktion gegen antifaschistische Fans, die leider erreicht hat, was geplant war – nämlich das Ende der Kind Fists und einer alternativen, antifaschistischen Fankultur in Petrozavodsk.
Und so sind wir schon bei den möglichen Alternativen und Interventionen zur beziehungsweise in die hegemonial rassistische, russische Fankultur. An diesem Punkt fiel es den anwesenden Gästen, bis auf Robert tatsächlich schwer Handlungsoptionen aufzuzeigen. Denn jedes sichtbare antirassistische oder sogar antifaschistische Engagement in der Kurve läuft Gefahr gewaltvoll zerstört zu werden. Lediglich die wenigen aktiven Fans von Spartak Nalchik und die Nalchik-Ultras der Red-White Djigits treten offen antirassistisch auf. Es gibt Nischen, wie die D.I.Y. League in Moskau oder Sankt Petersburg, wo alternative Fankulturen entstehen und gepflegt werden, wo Aktivist*innen, Fans, Antifas, Punks, Skinks, Straight Edger*innen und andere subkulturelle Leute sich treffen und Fußball spielen. Diese Freiräume werden sogar offenbar geduldet, denn, wie Ivan erzählte, gab es bislang keine Angriffe auf ihre Spiele durch Nazis und Nazi-Hools.
Bezüglich Interventionen gegen Rassismus im Stadion gibt es lediglich den Druck der NGOs wie FARE, der aber nur langsam und immer wieder frustrierend Früchte trägt. So gibt es offenbar neuerdings einen Anti-Rassismus-Beauftragten im Verband und bei CSKA. Nur haben diese keinen blassen Schimmer vom Thema und noch weniger Macht, irgendetwas Relevantes anzustoßen. Lediglich Robert von CSKA Fans against Racism konnte mit breiter Brust, im merkwürdigen und souveränen, fast geschultem Marketing-/PR-Stil von seinem Ansatz berichten. Denn er will mit seinem Engagement ein antirassistisches Role Model sein und ein alternatives, respektiertes Image von CSKA ohne Rassismus erschaffen, in dem die Ultras und die Nazi-Hools nix mehr zu sagen haben. Er publiziert den Rassismus der eigenen Fans und macht ihn sichtbar. Er will auf den Verein Druck ausüben, ihn beschämen und durch die drohende Beschädigung des Vereins konsequenteres Handeln der Vereinsstrukturen in Gang setzen. Er wünscht sich zum Beispiel auch keine UEFA Kollektivstrafen gegen alle Fans, sondern kreative Strafen zum Beispiel lediglich gegen den rassistischen Sektor der Ultras. Das klingt naiv und ist es wahrscheinlich auch. Aber das sollen andere bewerten…
Was ich viel wichtiger finde ist, was Ivan zusammenfassend betonte. So sah er die drei russischen Gäste als Vertreter*innen verschiedener Spektren, die sich unbedingt unterstützen, austauschen und vernetzen sowie nicht isoliert voneinander parallel entwickeln sollten. Diese Erkenntnis erscheint für uns, die wir gefestigte und erfolgreiche antirassistische Fanszene kennen sowie die sich in subkulturellen Freiräumen wie dem Baiz treffen und Veranstaltungen organisieren können, banal und einfach. Für die Gäste dürfte dies aber ganz anders aussehen. Deshalb bewertet Pavel die Veranstaltung zum Beispiel im Nachhinein, wie er mir schrieb, als Anfang eines Dialogs über Fankultur in Russland, über die so wenig bekannt ist. Das zunächst der Fokus auf den Problemen liegt, ist dabei wenig verwunderlich. Aber das kann sich im Dialog auch ändern. Auch Ivan hat es gefallen. Er meint, dass es weitere Veranstaltungen geben sollte – zum Beispiel über die Ultra-Kultur in Russland, über die im Westen kaum etwas bekannt ist.
Und diesen Einschätzungen der Veranstaltung von Gesellschaftsspiele durch die Gäste kann ich mich nur anschließen. Auch wenn manche meinen, die Organisator*innen wären mit ihrem Vorhaben gescheitert, über „Fankultur im russischen Fußball“ zu informieren, denke ich, dass es ein Anfang, eine gute Einführung in das Thema war, wobei viele Fragen offen blieben, was aber auch nicht ungewöhnlich ist. Denn wie langweilig muss ein Thema sein, das in 1 ½ Stunden aus allen relevanten Perspektiven betrachtet werden kann. Deshalb muss die Auseinandersetzung mit der Fankultur in Russland fortgesetzt werden. Vor allem auch, um Romantisierungen, Heroisierungen und Mystifizierungen vorzubeugen.
Zuerst veröffentlicht im Ultra Unfug #221. Das Bild zeigt den Sektor der Spartak Nalchik Fans und Material der Red-White Djigits.
Schlagworte: D.I.Y. league, Fankultur in Russland, FARE, Karelia Petrozavodsk, Rassismus, Spartak Nalchik